Blutjesus telefoniert mit dem BKA

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Experimentelle Lyrik hin oder her, von den derzeit erhältlichen Lyrikbänden ist Ulf Stolterfohts Neu-Jerusalem der zugänglichste: Problemlos lässt sich dieses buchlange Gedicht in einem Rutsch herunterlesen. Die Geschichte, die es erzählt, benötigt aber einige Verdauungszeit.

Zunächst einmal ist Stolterfoht seinen Cowboy-Wurzeln treu geblieben, die er zuletzt im gleichnamigen roughbooks-Bändchen zusammen mit Studenten des Leipziger Literaturinstituts beschwor. Indianer tauchen hier auf, Countrysänger Waylon Jennings und Willie Nelson streifen durch die Zeilen, und mittendrin der betrunkene Prediger Wagenblast: „was seid ihr denn für ein übler haufen heute nacht? ihr wisst genau, wie/man sich danebenbenimmt, schon mal was vom ‚anti-christ‘ gehört?/hat irgendeiner von euch schon mal vom ‚anti-christ‘ gehört?“

Wagenblast ist eine der beiden Hauptfiguren in diesem Band, neben einen gewissen Blutjesus und seiner Gemeinde von Radikalpietisten, die in Berlin-Schöneberg ihr Unwesen treiben, das sogar BND, BKA und den Verfassungsschutz auf den Plan ruft. War Michael Braun im Signaturen Magazin einigermaßen bestürzt über dieses „religiöse Buch wider Willen“, bei dem er eine „unfreiwillige Sakralisierung des poetischen Stoffs“ fürchtet und das für Stolterfoht offenbar typische Erkennungsmerkmal, die Auflösung aller festen semantischen Bindungen, vermisst, muss fairnesshalber entgegnet werden: Das wilde, anarchische und in weiten Teilen urkomische Parlando dieser Verse sucht seinesgleichen in der Gegenwartslyrik. Die Geschichte der radikalpietistischen Strömungen um 1700, Auswanderungswellen nach Amerika, und ein irritierend gegenwärtiger Blick auf Berlin überlagern sich virtuos, und vorgetragen wird das Ganze in einem wummernden Sprechgesang-Duktus, der selbst vor kalauernden Binnenreimen nicht halt macht: „(…) die/drohnen waren vom glauben beseelt, ‚dass etwas sei‘. sanft/küsst sie das fürstliche beil. und sie? behielten ihren glau-/ben bei. und wir? befinden uns im jahre 1703“.

Außerdem, wo findet man schon in einem Literaturverzeichnis Bob Dylans Songtexte neben Francis Bacons Neu-Atlantis? Eben.

Ulf Stolterfoht: Neu-Jerusalem. Kookbooks, 104 Seiten, 19,90 €

2 Kommentare zu „Blutjesus telefoniert mit dem BKA

  1. Ah, prima! Die ersten Rezensionen! Ja, ein witziges Buch voller Drive, das auf mich überraschend (nicht unangenehm!) narrativ wirkt. Ich erahne eine ‘konservative’ Halbdrehung, misstraue aber meiner Ahnung. Das passt doch gar nicht zu ihm!? – Ich muss darüber schlafen …
    Die skurrile religiöse Geschichte, die neu-jerusalem offenbar erzählt – aber wer weiß, es sind alles Worte, und Worte sind unsichere Kantonisten … – finde ich extra interessant, zumal als einer von der katholischen Partei.
    Mir persönlich war auch mehr die leibfeindliche Variante des Christentums bekannt. Erhellend, dass auch mal was anderes ausprobiert worden war, ganz offen, in unschuldiger Unkeuschheit.
    Ich habe mich gefragt, ob neu-jerusalem zur Reihe der fachsprachen-Bände zählt?! Formal würde es passen.
    Die lustigen Krickeleien des letzten Kapitels sind neu bei Stolterfoht. Es ist aber nicht neu, dass das neunte Kapitel eines seiner Langgedichte ausschert, es gab da mal eine Wörterliste zum Beispiel. Das neunte Bein ist also noch einmal auf eine besondere Weise ein Spielbein.

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