Lebenszeichen aus Leipzig

Ironie des Schicksals: Am Tag der Absage der Buchmesse erreicht mich ein Brief von Sascha Kokot aus Leipzig, der mir sein Heft was wir waren schickt: 15 Gedichte, hellgrau auf weiß gesetzt, minimal gestaltet, und ein Gruß „bis bald zur Messe in Leipzig“.

Aber zum Glück sind Gedichtbände nicht an tagesaktuelle Ereignisse gebunden. Über Sascha Kokots Gedichte habe ich zuletzt anlässlich der Veröffentlichung seines Debütbands Rodung im Jahr 2013 in der Edition Azur geschrieben, ebendort erschien 2017 auch sein zweiter Band Ferner. Beide sind, jenseits der verlagsbranchenüblichen Neuerscheinungszyklen, nach wie vor sehr lesens- und empfehlenswert.

Was ich an Sascha Kokots Gedichten mag, und was auch dieses neue, als Off-Projekt von dem Hamburger Kurator Carl-Walter Kottnik in einer kleinen, handnummerierten Auflage herausgegebene und von der Künstlerin Ajete Elezaj gestaltete Heft ausmacht, ist die Knappheit, die Reduktion auf das Wesentliche, aus der dann das Besondere hervorsticht:

die Autos schlingern
den Schnee aus der Kurve
heute Morgen fiel
in schweren Flocken
die Stille herab
hielt den Tag an
breitete ein Licht aus
in dem noch jede Spur fehlte

Da kommt es dann gar nicht mehr so sehr darauf an, ob es eine Autofahrt, ein Blick aus dem Fenster, ein Huster im Treppenhaus oder, immer wieder, als Leitmotiv, die eigene Katze ist, der sich das Gedicht zuwendet. Das „klare Weiß“, wie es an einer anderen Stelle heißt, die kurzen Augenblicke der Ruhe und des Innehaltens sind es, die es Sascha Kokot schafft, mit einem feinen Sensorium einzufangen.

Hervorzuheben ist noch das Rätselhafte, das Sascha Kokots Gedichte seit seinem zweiten Band durchzieht, in dem etwa unvermittelt im Untergrund lebende Löwen auftauchten. Seine Entsprechung findet es hier gleich im ersten Gedicht des Hefts, das wie eine Urlaubspostkarte anfängt („sind gut angekommen“), aber dann lediglich eine Autofahrt durch den Schnee beschreibt und dann mit einem schnöden „schön ist es hier“ abbricht – aber ist das nicht auch die Hauptsache?

was wir waren von Sascha Kokot ist nicht im Handel erhältlich, kann aber über mail@saschakokot.de direkt bei ihm angefragt werden; die beiden Bände Rodung und Ferner sind nach wie vor in der Edition Azur lieferbar.

Worte, die eigentlich Wolken waren

In der literarischen Wunderkammer: Ein neuer Band mit Essays und Reden von Uljana Wolf versammelt poetologische Selbstauskünfte, dokumentiert produktive Auseinandersetzung mit Kolleginnen und Kollegen – und ist ein Wegweiser durch ihr bisheriges Gesamtwerk.

Im Mittelpunkt steht dabei die für wohl keine andere Dichterin ihrer Generation so charakteristische Beschäftigung mit Sprache, sei es dem Polnischen, das ihren Debütband Kochanie, ich habe Brot gekauft prägte, dem Englischen der false friends und eigener Übersetzungen als Ausgangs- und Zielsprache, aber auch dem Belarussischen (etwa bei Valzhyna Mort). Von Uljana Wolfs Übersetzungen aus dem Englischen, insbesondere der Texte von Christian Hawkey und Matthea Harvey, handelt der erste Teil von Etymologischer Gossip, das jetzt bei Kookbooks erschienen ist; der Gegenrichtung widmet sich der zweite Teil, der überraschende Einblicke in das Werk von Christine Lavant gibt, aber auch die große Faszination Wolfs für das Werk von Ilse Aichinger zeigt. Besonders faszinierend: Die der Textart nach Dankesreden, Nachworte, Zeitschriftenbeiträge, die das Buch ausmacht, reihen sich zum Teil so nahtlos aneinander und greifen gegenseitig ihre Motive auf, dass es ein Genuss ist, einfach weiterzulesen. Ebenso erschließt sich das dichterische Werk Uljana Wolfs ganz nebenbei; von großer Empathie geprägt sind wiederum die Beiträge im letzten Teil des Bandes, die sich Dichterkolleginnen wie Dagmara Kraus, LaTasha N. Nevada Diggs, M. NourbeSe Philip, Theresa Hak Kyung Cha und ihren jeweils auf eigene Weise außergewöhnlichen Werken widmen.

Ein weiterer Genuss bei der Lektüre von Uljana Wolfs Texten ist ihr Umgang mit der Sprache selbst, beispielhaft in diesem magisch aufgeladenen Auftakt eines Essays über das Übersetzen von Ilse Aichinger: „Schnee habe ich in Rom nur einmal gesehen. Er deckte einen Morgen lang sämtliche Risse und Schlaglöcher zu. Als er geschmolzen war, hatten sich die Risse und Schlaglöcher unter seiner weißen Inkubationshaube vermehrt, als gäbe es eine negative Brutlogik, die irgendwo am kalten, schartigen Sprachrand der Wirklichkeit Brut an Brutalität koppelt und Schnee an die Möglichkeiten der Nichtexistenz.“ Es erfüllt mit Glück, Uljana Wolfs Gedankenbewegungen zu folgen, wenn sie die Strategien ihrer Übersetzungsarbeit beschreibt. Gleichsam überraschend sind die vielen kleinen Geschichten, die in den Essays stecken: Sei es über die Mutter des Monkeys-Sängers Michael Nesmith, die das Liquid Paper, eine Art Tipp-Ex, erfindet und dabei eine direkte Linie zu Uljana Wolfs und Christian Hawkeys Erasure-Gedichten Sonne From Ort bildet; oder über den Physiker John Scurlock, der 1957 versehentlich die Hüpfburg erfunden hat, aus deren unvorhersehbarem Inneren, in dem ihre „Passagiere“ ungeordnet durch den Raum fliegen, sich eine Art Ursymbol für die Poesie bildet. Einen von mehreren roten Fäden bildet Walter Benjamins Kindheit um neunzehnhundert, insbesondere die Miniatur „Mummerehlen“, aus der das einprägsam-schöne Zitat von den „Worten, die Wolken waren“, stammt – sie ist unter anderem autobiografischer Anknüpfungspunkt von einer Fahrt mit der Seilbahn auf dem Gelände der Gärten der Welt in Berlin-Kaulsdorf, wo Uljana Wolf aufwuchs: Hier befindet sich auf dem 102,2 m hohen Kienberg die Aussichtsplattform „Wolke“.

Eine besondere Stellung in Etymologisches Gossip nimmt ein Gespräch zwischen Uljana Wolf und dem norwegischen Dichter Simen Hagerup unter dem Titel „Fibel Minds“ ein, das die beiden anlässlich des Audiatur-Festivals in Bergen per E-Mail geführt haben: Es wirft noch einmal mehr als die auch in den übrigen Texten gelegten autobiografischen Spuren einen Blick hinter die Kulissen, der Wurzeln und Einflüsse deutlich macht, die das Besondere von Uljana Wolfs Dichtung insgesamt ausmachen: Der Austausch mit Dichterkolleg*innen über Ländergrenzen hinweg, das Beschäftigen mit Konzepten der hybriden Dichtung, und dabei doch immer wieder das Festhalten an der deutschen Sprache, die sie kreativ und schöpferisch immer wieder neu aktualisiert.

Am Beispiel von Dagmara Kraus, der sich gegen Ende des Bandes gleich zwei Beiträge widmen, zeigt Uljana Wolf noch einmal ganz konkret, wie dieser kreative Umgang mit Sprache aussehen kann: Die zwischen allen Stühlen stehende Kunstsprache, der sich die in Polen geborene, nun in Deutschland und Frankreich lebende Dichterin bedient, folgt nach ihrer Argumentation eine Strategie der „Minorisierung“ der deutschen Hegemonialsprache, die in Vermischung mit polnischen, englischen und französischen Versatzstücken gewissermaßen lustvoll vom Thron gestoßen wird.

Mit seinen über 200 Seiten bietet Etymologischer Gossip eine ausführliche, beeindruckende Bilanz von Uljana Wolfs bisherigem Schaffen, die durchweg fasziniert. Wo sie die Hüpfburg wohl als nächstes aufschlägt?

Uljana Wolf: Etymologischer Gossip. Essays und Reden, Kookbooks, 232 Seiten, 22 €

Die Gestaltung aller im Beitrag gezeigten Bände, auf die hier bereits gesondert eingegangen wurde, stammt von Andreas Töpfer.

Die Geisterfinger im Saitenspiel

Foto © Martin Dziuba (poesiefestival.org)

Am Sonntag war es wieder soweit: Das Berliner poesiefestival feierte mit der Berliner Rede zur Poesie eines seiner Highlights. Nach der großen „Weltklang“-Nacht der Poesie am Freitag trug der Berliner Dichter Johannes Jansen seine „Berliner Rede zur Poesie“ vor.

Man muss diese Setzung in ihrer Wichtigkeit betonen, standen doch in den Vorjahren bereits Oswald Egger, John Burnside, Elke Erb und, im letzten Jahr, die schon als Nobelpreis-Kandidatin gehandelte Ann Carson am Rednerpult – allesamt also renommierte, hoch dekorierte Poet*innen.

Nun also Johannes Jansen: Ein eher unscheinbarer Kandidat. Um die Jahrtausendwende gab es von ihm zwei Bände in der edition suhrkamp, anschließend zwei bei Kookbooks, darunter das auch in seiner aufwändigen Machart hervorstechende Liebling, mach Lack. Die Aufzeichnungen des Soldaten J.J. Hauptsächlich veröffentlicht der 1966 in Ost-Berlin geborene und auch in der ebendort angesiedelten Avantgarde-Lyrikszene mit agierende Jansen aber konstant, und zwar das schon seit 1988, in Klein- und Kleinst-Verlagen wie der Edition Mariannenpresse oder, zuletzt, Ripperger & Kremers, sowie in Privatdrucken und Einzelveröffentlichungen in Minimal-Auflage.

Ein Dichter, der also, ganz anders als seine Vorredner, nicht im Mittelpunkt der Öffentlichkeit steht. Oder sogar die Öffentlichkeit scheut? Das ist Interpretationssache – fest steht aber, dass die Wahl auf Johannes Jansen als Vortragenden der diesjährigen Berliner Rede zur Poesie eine äußerst gut durchdachte Wahl war: Das „Ergebnis einer Isolation“, so der Titel, kann sie als direkte Reaktion auf die letzten eineinhalb Jahre im Zeichen der Corona-Pandemie verstanden werden. Es wäre aber eine enttäuschende Vereinfachung, sie darauf zu reduzieren: Das C-Wort fällt nicht einmal; die kurzen, durch Sternchen voneinander getrennten Prosastücke, die wiederum selbst aus Kurz- und Kürzestsätzen bestehen, reflektieren vielmehr ganz existenzielle Themen: Das leere Blatt, die Einsamkeit und Depression, Wohnungs- und Geldnot, Krankheit; aber auch immer wieder kurze Augenblicke des Glücks. Johannes Jansen findet dabei Worte und Formulierungen, die auf eine fast unheimliche Art bewegen. „Die Depression ist profan“, heißt es gleich auf der ersten Seite, und weiter:

Die Geisterfinger im Saitenspiel machen den Wahn. Die sichtbar unbenennbare Liebe. Ein Wagnis das hält. Erstaunlich. Das Schweigen ist Schwelgen. Berührung besticht. So geht die Zeit ohne Druck, ohne Sucht. Nach dem flüchtigen Abschied die Sehnsucht die sich im Wiederbegegnen erfüllt. Die Jahre im Abseits haben nichts betrügen können. Einigkeit in der Unterscheidung die den Kontakt macht. Auf der Straße im Blitzlicht der Alltag, deutlich genug um zu taugen. Jedem sein Anteil. Der schöne Blick der Nachbarin der Treue beschwört. Treue zum endlich einigen Haushalt. Der kluge sich ordnende Organismus. Das Heilige gibt es wirklich.

Es ist eine fast verstörende Konzentration auf das Wesentliche, die aus diesen Zeilen spricht. Die einfache, reduzierte Sprache macht diese Texte gleichzeitig sehr konkret und extrem deutungsoffen: Manche lassen sich auf die unmittelbare Gegenwart anwenden, andere scheinen weit in die Vergangenheit zu verweisen. Szenen einer Krankheit sind zu verfolgen, Arztbefunde: Wer hier spricht, hat schon eine ganze Menge Leben hinter sich, so der Eindruck.

Wie passend dazu die Art, in der Jansen seine Rede dann auch vortrug: Mit ineinander verschränkten Armen und Beinen, tief über den Text gebeugt, wie um bloß in jedem Fall die große Geste am Rednerpult zu vermeiden, aber eben auch als ein Spiegel des Vorgetragenen: Das Alter, die angedeutete Krankheit nicht versteckend, aber auch nicht ausstellend. Am Ende scheint es fast so, dass nicht wegen Pandemievorschriften der Dichter mutterseelenallein im riesigen Saal der Akademie der Künste saß – sondern das Setting sich dem Gesagten unterordnete.

Johannes Jansen: Ergebnis einer Isolation (Auszüge) / Outcome of an Isolation (Excerpts). Berliner Rede zur Poesie, Band 6. Englische Übersetzung von Shane Anderson. Wallstein Verlag, 48 Seiten, 13,90 €

Rede von Johannes Jansen in der Mediathek des Poesiefestivals, nach Kauf eines Tickets über 3 € noch zwei Monate lang abrufbar

Ich bin’s, dein Feuerhörer

Valzhyna Morts Gedichtband Musik für Tote und Auferstandene erzählt aus der oft brutalen Geschichte ihrer Heimat Belarus – vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Aufständen dieser Tage.

Am 9. August 2020 wurde Alexander Lukaschenko mit einer Stimmenmehrheit von 80,1 Prozent in seinem Amt als Präsident von Belarus bestätigt. Noch am Wahlabend begannen Proteste gegen die gemeinhin als gefälscht geltende Wahl, die über Monate hinweg andauerten und immer brutaler niedergeschlugen wurden.

Die belarussisch-amerikanische Dichterin Valzhyna Mort hat diese Proteste ausführlich auf Twitter dokumentiert und begleitet. So schreibt sie etwa am 23. August 2020: „I always thought our wide avenues are built for military marches and tanks. It turns out they are built for people.“

Die massenweisen Verhaftungen der Demonstranten durch maskierte Sicherheitskräfte thematisiert sie ebenfalls: „Poets Hanna Komar and Uladzimir Liankevich were detained in Minsk today. I quoted Hanna a couple of days ago in my Twitter feed. Now we don’t know where she is.“

Auch in ihrem dritten Gedichtband Musik für Tote und Auferstandene, der jetzt im Suhrkamp Verlag erschienen ist, finden sich Echos der Proteste: In einem eigens für die deutsche Ausgabe geschriebenen so genannten „Spurentext“ erzählt Valzhyna Mort die Geschichte ihres ehemaligen Klassenkameraden Maxim Snak, der seit September 2020 in Haft ist und von Amnesty International inzwischen als politischer Gefangener eingestuft wird. Wie durch ein Brennglas wird hier das Thema des Gedichtbands auf den Punkt gebracht: Die Geschichte der Gewalt in Belarus.

Wie schon in Tränenfabrik und Kreuzwort sind die langen, ausdrucksstarken Gedichte von Valzhyna Mort von einer Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte geprägt. Für die 1981 in Minsk Geborene, die nun schon 15 Jahren in den USA lebt, ist das Heimatland immer noch so unmittelbar gegenwärtig, das selbst Kindheitserinnerungen aus Sowjetzeiten unheimlich nah wirken:

Zukunft, die nach dem Tramfahrplan geht. Die Straßen stellten sich vor
mit ihren Mördernamen,
ich aber schuf mir, in mir 

eine eigne Kammer,
dort räumt die Erinnerung –
illegale Zeitmigrantin –
fleißig auf hinter der Einbildungskraft. 

Großmütter tauchen auf, die in ihren „Knipsbörsen“ ebenso die Schokolade wie Sterbeurkunden von Verwandten aufbewahren, das Kind lernt mit großer Freude Akkordeon spielen, der Winter macht sich durch „gnadenlose Schneetage im Küchenfenster“ breit. Was ist mit dem Bruder der Großmutter geschehen, dessen Briefe bei einem Umzug nach dem Großen Vaterländischen Krieg verloren gegangen sind? Wie beeinflusst einen selbst in der Ferne noch die Schwere dieser Geschichten? Was bedeutet es, „Versuchsperson für den glühenden Reaktorkern von Großmutters Erinnerung“ zu sein, in der so viel Tod, Knochen und Gräber vorkommen?

Die Tochter, die Enkeltochter, die sich erinnert, um ihre eigene Identität zu finden: Auf die beiden längeren Gedichte „Haltestellen: Ars Poetica“ und „Ein Versuch in Ahnenforschung“, die Übersetzungen beide jeweils dem belarussischen bzw. englischen Original gegenübergestellten Texte (die Übersetzungen haben Katharina Narbutovič und Uljana Wolf angefertigt) folgen einige kürzere, die sich als Lieder („Lied für ein Taschenmesser“), Psalme oder einfach „Musik“ („Musik für Mädchenstimme und Bison“) ausgeben; auch ein Prosateil, wie es ihn in Kreuzwort bereits gab, kommt dazu. Schichtweise wird so Episoden aus der Familiengeschichte, Erinnertes, Erzähltes, eine oft leichte, verspielte Form gegeben.

Oft genug geht es aber um die Spuren, die die Gewalt in der Familiengeschichte hinterlässt. Und die surrealen Bilder, mit denen Valzhyna Morts Gedichte diese einfangen, sind die, die am längsten im Gedächtnis haften bleiben:

Ein Wählscheibentelefon ist ein Genpool.
Mein Körper klingelt, sprintet
dass ich meinen Kopf
auf die starke Schulter eines Hörers lege.

Hallo, hier ist Blut! Blut hat eine schwache Leitung.
Im Hörer ein Knistern
als riefe mich Feuer an.
Wer ist da?

Ich bin’s, dein Feuerhörer.

Valzhyna Mort: Musik für Tote und Auferstandene. Gedichte. Edition Suhrkamp, 142 Seiten, 15 €

Über Nacht haben sie den Wald mit Wald ersetzt

Levin Westermanns dritter Gedichtband bezüglich der schatten feiert das Langgedicht und überrascht mit formalen Experimenten.

Das nach 3511 Zwetajewa zweite Buch Westermanns bei Matthes & Seitz Berlin beginnt zunächst mit Fremdtext: Dem Inhalt vorangestellt ist das kurze Gedicht „Door in the Mountain“ der 1934 in Chicago geborenen Jean Valentine, das die wilde Natur als Zufluchtsort vor der als feindlich wahrgenommenen Zivilisation beschreibt (eine Lesung kann man sich hier anhören). Es setzt den Akzent für den ersten Abschnitt des vorliegenden Bands, der mit düstern Bildern eine Reise durch eine nach einem nicht näher definierten „Störfall“ zerstörte Welt beschreibt: „Man gewöhnt sich/an alles. Es stimmt./Donnergrollen, Wolken,/Wind. Körper schaukeln sacht/an einem Baum.“ Die – wie sich andeutungsweise herausstellt – weibliche Erzählerin dieses in kurzen, ungereimten Versen sich abspulenden Langgedichts begegnet blauäugigen Engeln, mehreren Tieren, darunter vor allem einem Fuchs, der sie über längere Zeit begleitet, und – als einzigem Menschen – dem wortkargen Wladislaw, der sich als kundiger Weggefährte erweist. Die Reise wird zunehmend eine fantastische, die Tiere beginnen zu sprechen; am Ende steht eine Arche und der klassische Meeresgott Triton wird angerufen, er möge mit einem Stoß in sein Horn das Meer aufwühlen.

Auf dieses, das gesamte erste Kapitel umfassende Mini-Epos folgen in einem zweiten Kapitel drei kleinere Texte: Zuerst „scapula“, ein aus sechzehn nurmehr zweistrophigen Gedichten bestehender Zyklus, der von einer YouTube-Video über die britische Bergsteigerin Hazel Findlay, die bei einer Besteigung des Dyers‘ Lookout in Devon als erste Frau den extremen Schwierigkeitsgrad E9 absolviert hat. Der unmenschlichen Anstrengung des Kletterns auf einer fast ebenen Bergwand stehen bei Levin Westermann leichte, fast schwerelose Texte gegenüber, die das Besiegen der Schwerkraft feiern und gleichzeitig den Blick auf das Überzeitliche weiten:

und ferne. sehnsucht in den augen. sieben
zentimeter von der stirn bis an den fels. fugenlos.
glattgeschliffen durch wetter und wind. durch wasser.

gletscher. zeit. ein kontinent – begraben. unter eis.
endlose flächen aus ewigem weiß. zehntausend jahre lang:
stille. und schlaf –

Darauf folgt ein Exkurs ins Dramatische: In „(WEIBLICH)KIND(stumm)“ werden eine trauernde Tochter und ein Chor den Stimmen von Roland Barthes und Ann Carson gegenübergestellt, die aus Originalzitaten aus deren Werken Tagebuch der Trauer und Men in the Off Hours montiert wurden. Hier wird auch wieder die große Bedeutung der antiken Klassiker für Westermann deutlich, der sich in Form und Inhalt von Euripides‘ Alkestis inspirieren ließ.

Sarkophag. Vater, ein Sarkophag! Ist das nicht lustig?
Du wolltest ewig leben und nun begraben sie einfach
das Haus – das ganze, gottverdammte Haus. Ist das
nicht lustig? Vater? Vater, ich spreche mit dir. Sieh
mich an, wenn ich mit die spreche. IST DAS
NICHT LUSTIG?!

Am Ende steht wieder ein Langgedicht in der Art des ersten Teils; ganz anders als zuvor ist in „zerrüttung“ aber der Fokus ganz verengt auf den Tagesablauf einer einzigen Person, durchgängig in der Du-Form angeredet, die, alleine auf sich gestellt, mit einer hypersensiblen Wahrnehmung einen Zustand von fast feierlicher, transzendenter Einsamkeit beschreibt. Ein passender Schlusspunkt – doch halt, kurz vor dem Fadeout taucht noch einmal ein alter Bekannter auf: „du siehst einen fuchs,/hörst einen hund./atmest beständig,/leere/und licht.“

Levin Westermann: bezüglich der schatten. Matthes & Seitz Berlin, 160 Seiten, 20 €

Ein Hinweis aus gegebenem Anlass: Der lokale Buchhandel braucht gerade jetzt, in den Zeiten der Coronakrise, eure Unterstützung. Entdeckt unter www.buchhandlung-finden.de Buchhandlungen in eurer Nähe, bei denen ihr dieses und viele weitere Bücher einfach & bequem bestellen könnt.

I used to be a lunatic

Maren Kames holt in ihrem neuen Buch zur ganz großen Geste aus: Luna Luna führt mitten hinein in die Mondlandschaften der Liebe – und des Krieges.

Weiß auf schwarz, umgeben von einem pinken Vorsatzpapier, präsentiert sich hier ein Text, der Monolog, Klagerede und Sprachperformance miteinander verbindet. Es geht um Trauer, Wut, gleichzeitig ist der Redefluss hoch reflektiert und findet immer wieder zu einer ironischen Distanz. Das zeigt sich in den Brechungen, in denen sich die Sprecherin selbst aufs Korn nimmt („warum bin ich so zerzaust? warum rauch ich so oft?“); das zeigt sich aber auch in der so heterogenen Textgestalt, in der Maren Kames ein ganzes Repertoire an Songreferenzen untergebacht hat und so auch einen Teil ihrer Poetik offenlegt: Wortwörtliche Übersetzungen, frei Assoziiertes und miteinander Montiertes lassen Luna Luna zu einem komplexen Gewebe werden, das mit einem großen musikalischen Gespür zusammengesetzt ist. Der Wahrhaftigkeit tut das alles keinen Abbruch: Auch in den ironischen Momenten, und gerade in der unbekümmerten Art, wie dieser Text bereit ist, seine Gemachtheit auszustellen, liegt eine schonungslose Ehrlichkeit, die die große Qualität von Maren Kames’ Schreiben ausmacht.

Es beginnt, drastisch, „scheiße und eiskaltz“, mit einer Trauer- oder auch Wutrede über einen schmerzlichen Verlust („ich bin circa in der mitte entzwei gebrochen/und nicht wieder heilgeworden“), und der Anrufung der Mutter, die ihr „mödchen“ (sic!) vermisst; um die Ecke lugt ein Sheitan. Dann folgt der Mittelteil „krieg“, eine Art Totentanz, oder zumindest nahe dran, in dem Körperlichkeit, Wahnsinn und Gewalt sich ihre Bahn brechen. Körper werden „zu Gold gedrillt“, ein Tyrann verschanzt sich mit Basecap im Schützengraben und verliebt sich in einen Soldaten, mit dem er zusammen kitschige Liebeslieder zum Besten gibt. Eine unwirkliche Szenerie entfaltet sich hier, in der weniger der Krieg selbst als die fatalen Auswirkungen auf die mentalen Zustände der in ihm verstrickten Akteure Thema sind. Wieder zurück vom Schlachtfeld, im dritten Teil, stößt, in einer freien Variation auf den Songtext von Lapsleys „Station“, neues Personal dazu: Eine Geisha und der Sheitan vom Anfang, der sich als „eine art dämon“, als böser Gegenspieler, das negative Prinzip an sich entpuppt:

die
gähnend klaffende,
von oben herab lachende
ableitung aus allem vermeintlich zu ende gedachten, ein zwang, die angst, die leiter abwärts, ein spross von moder, und gleitend, hinterrücks: ein laut posaunender gauner, aus dem aus klau entstandener bummer, perfide perücke, filzig, verflixt, zugleich der kamm gegen den strich, das aber! aus allen verteufelten ecken und die steigerung von ewig.
wenn’s die gäbe.
eine schimäre.

Es ist ein kurzes Innehalten, ein Moment des Zögerns zwischen sich Ergeben, Zurückziehen und Weitermachen, der den dritten Teil ausmacht, bevor Luna Luna in einer zauberhaften Wendung – „hokus pokus“ – zum großen Finale ansetzt: „In meinen gloriöseren Tagen bin ich ziemlich lunar gewesen“ hieß es am Anfang – jetzt fällt der Mond in einer fantastischen Wendung des Geschehens selbst vom Himmel, die Geisha fährt auf einem Boot davon, zusammen mit Annie Lennox, die eine Schliere von pinkfarbenem Make-up hinter sich herzieht. Schöner, tröstlicher und hoffnungsvoller könnte man sich ein Ende nicht ausmalen in einem Buch, das sich weit in die Extreme menschlicher Zustände vorwagt.

Anhören kann man sich diesen vielstimmigen Text übrigens auch als Hörspiel, das zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches im Deutschlandfunk gesendet wurde und hier nachgehört werden kann. Und auf keinen Fall zu verpassen ist die Buchpremiere am 7. Oktober im Silent Green Kulturquartier in Berlin-Wedding.

Maren Kames: Luna Luna, Secession Verlag, 160 Seiten, 35 €

Hörspiel zum Buch beim Deutschlandfunk (Regie: Leopold von Verschuer, mit Marina Frenk, Jens Harzer, Jürgen Holtz u.a.)

Buchpremiere am 7. Oktober um 20 Uhr, Silent Green Kulturquartier, Gerichtstr. 35, 13347 Berlin

Der Weg ist mit Sternen übersät

Die Lebensgeschichte von Ivan Blatný, wie sie in Francis Neniks Band Doppelte Biografieführung wiedergegeben ist, liest sich wie ausgedacht: Diese Dichterfigur könnte ohne weiteres auch dem Universum von Thomas Pynchon oder Roberto Bolaño entsprungen sein.

Aber Ivan Blatný gab es wirklich, und seine Lebensgeschichte ist tatsächlich so irrwitzig, wie Nenik sie beschreibt: Als bereits gefeierter junger Schriftsteller in der Tschechoslowakei setzt er sich in den späten vierziger Jahren, nach der Machtübernahme der Kommunisten, nach London ab und flüchtet sich aus wohl teils realer, teils eingebildeter Angst vor der Verfolgung durch den Geheimdienst in die Psychiatrie, wo er, im geschützten Raum des Exils, aber auch isoliert in einem fremden Land, bis zu seinem Tod weiterschreibt. Eine Krankenschwester rettet einige Texte, die regelmäßig im Müll landen, vor der Vernichtung, der kanadische Exilverlag Sixty-Eight Publishers veröffentlicht sie Ende der siebziger Jahre. In der Edition Korrespondenzen ist mit Hilfsschule Bixley nun auch der zweite Band auf Deutsch erschienen, übertragen von Jan Faktor und Annette Simon, die behutsam die Mehrsprachigkeit der Originale erhalten haben:

Der Weg ist mit Sternen übersät

La route est semée d’étoiles
und eine Symbolgestalt geht durch dunkle Haine

Wer hätte gedacht dass eine Hummel stechen könnte
die kleine Filzkugel

Die Hummel ist ein Hochzeitssymbol im Gedicht in der fremden Wohnung
oberhalb der Stadt hummelt ein Flugzeug

The guest star is Bing Crosby
the guest star is Bob Hope

The bumble-bee may be also called humble-bee
they humbly suck the nectar
without being able to build a hive.

Wobei es mit dem Übertragen so eine Sache ist: So berichtet Marie Luise Knott eingehend auf Tagtigall über die Collagenhaftigkeit und die Besonderheiten der Übersetzung von Ivan Blatnýs Texten, die frei zwischen dem Tschechischen, Englischen, Deutschen und Französischen changieren.

Ivan Blatný, der 1990 in England gestorben ist, hat seine Heimat Tschechien nicht mehr wiedergesehen, auch wenn er die „Samtene Revolution“ noch miterleben durfte. Auf der Leipziger Buchmesse, die dieses Jahr Tschechien als Gastland begrüßt, wird sein Werk zweimal vorgestellt: Die Übersetzer präsentieren zusammen mit Verleger Reto Ziegler am Messesamstag Hilfsschule Bixley als zentrales Werk der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts (13 Uhr, Forum DIE UNABHÄNGIGEN, Halle 5 Stand H309); am selben Tag spricht Jan Faktor mit Erika Preisel von literadio noch einmal über die Übersetzung (16.30 Uhr, IG Autorinnen Autoren, Halle 4, E209).

Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley, Edition Korrespondenzen, 240 Seiten, 22 €

Lo, my hunchies!

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Ein Höllenspaß: Dagmara Kraus hat Frank O’Haras Lunch Poems umgeschrieben – und entlockt den Texten überraschend neue Blickwinkel.

Die alltäglichen, immer wie nur gerade nebenbei notierten Texte Frank O’Haras, 1964 als Band 19 der Pocket Poets Series erschienen, handeln von Leberwurst, Klatsch und Tratsch aus der New Yorker Kulturszene oder banalen Alltäglichkeiten, die im Tonfall lässig bis lakonisch daherkommen. Dagmara Kraus nimmt sich das vorliegende Material vor und verstellt Buchstaben, Worte, rückt sie vom Zeilenende an den Anfang, vom einen Gedicht ins Gegenüberliegende. Ihre Methode beschreibt sie selbst so: „Ein Text buckelt und verbuckelt sich; ein Text tut schön und ergeben, liebedienert einem Meister, den er gleichwohl a tergo a gibbi zu entstellen versucht.“ Das Resultat, das sie Aby Ohrkranf’s HUNCH POEM genannt hat, und das nun als Band 46 bei roughbooks erschienen ist, trennt die Sinnbezüge in den sprachlich schlichten Gedichten Frank O’Haras fein säuberlich auf, dreht sie auf links und verwandelt die Texte in experimentelle Klangpoesie, die mehr oder weniger deutlich um das Thema „Buckel“ kreist. Aus „A step away from them“ wird so:

MORF THEM

It’s my hunch hour, so I go, a
toothpick, languorously agitating.

A blond horus licks his smiles
And rubs his chin. Everything

is hin. A girltooth, miles to O,
anglaisourously very tatitating.

Little Mün, lo, my hunchies:
the isles to bond, bland onde

goes sour, Mond on toothpick,
chichunch, so I go, ruby thing

rousing bones, hunch crunchy.

Die Nähe zum Dadaismus bestätigt der Abdruck von Hugo Balls „Karawane“ als eine Art Schlüsseltext etwa in der Mitte des Bandes, und auch der Mittel der konkreten Poesie bedienen sich Kraus‘ O’Hara Bearbeitungen, wenn sie den Text kugelförmig anordnen, zerschneiden und übereinanderstapeln oder in der Silhouette einer Katze wiedergeben.

Ein schönes Detail ist noch, dass den von der Autorin selbst als „Verhunzung“ bezeichneten Appropriationen auch gleich noch eigene „Übersetzungen“ ins Deutsche mitgeliefert werden, in denen es ähnlich hoch her geht:

kling ich wirklich wie ein angerissener pierog
wie ich ziellos das ohr abwander
während irgend täubidröhe freude
plingpling in den buckel pumpt

Das mittlerweile historisch gewordene provokante Potenzial von O’Haras Lunch Poems wird damit zwischen den Zeilen wieder sichtbar – eine schöne Hommage an einen Klassiker der modernen Dichtung.

Dagmara Kraus: Aby Ohrkranf’s HUNCH POEM, roughbooks, 108 Seiten, 11 €

Spliss scrollt in Fachsprache

heidrich-marquardt-stolterfoht

Ganz besonders kann man sich im Frühjahr oder Herbst freuen, wenn neue Kookbooks-Bände erscheinen, sind sie doch jedes Mal eine wahre Augenweide für Freunde der Buchgestaltung.

Jetzt ist es mal wieder soweit, und das neue Programm wartet mit drei neuen Lyriktiteln auf, die tatsächlich jeder für sich sehr lesenswert sind. Darum erscheint an dieser Stelle eine Dreifachrezension.

Ich bin dieses lose Gerät. Siehst du mich schreiben?

Los geht es mit Christiane Heidrich, 1995 geboren, die mit Spliss ihr Debüt vorlegt. Gedichte von ihr konnte man in der Edit lesen und in der von Max Wallenhorst für CHANGE kuratierten Reihe Sexting. Es sind kühle, sorgsam gebaute Texte, die die junge Lyrikerin, die in bildender Kunst und Sprachkunst gleichermaßen zuhause ist, hier baut und zu insgesamt acht Zyklen ordnet. Sie tragen Titel wie „dinge rücken“, „Today I am functional“ oder auch „Water Lilies“ heißen und entwickeln eine ganz eigene, elegante Schönheit.

zehn beine hast du, kalmar
drei herzen auch dafür

Tristan Marquardt lässt auf sein Debüt Das amortisiert sich nicht mit dem Band Scrollen in Tiefsee eine Sammlung von Gedichten folgen, die einerseits den als Mediävisten tätigen Autor verraten („Tag- und Nachtlieder“, „Parzival-Lexikon“), aber auch konzeptuell neue Wege gehen: Ein Zyklus aus Zweizeilern etwa, und die zwischengeschobenen als „Kataloge“ betitelten spielerisch-lexikalischen Parts zu gemischten Themen („Lichtkatalog“, „Fehlkatalog“, „Postkatalog“) machen den Reiz dieses an Überraschungen reichen Bandes aus.

wir sind so die typen und tanten, immer eine calzone im koffer

Ulf Stolterfoht schließlich, der Autor mit dem größten Back-Katalog hier, bei Kookbooks aber noch nicht so lange dabei (den Einstand machte 2015 das völlig irre Neu-Jerusalem über Radikalpietisten im Jahr 1703), setzt sein Mammut-Projekt Fachsprachen fort – und fügt, beginnend mit dem 37. Abschnitt, nach bewährtem Prinzip neun weitere Kapitel mit jeweils neun Gedichten an, die auf knapp 100 Seiten – es ist auch der längste Band der drei – nach wildester Pastiche-Art Oskar Pastior, Hans Arp, Inger Christensen und Rosemarie Waldrop samplen und grüßen. Zwei ganze Abteilungen sind einer völlig aus dem Ruder laufenden Neuerfindung von Kurt Pinthus‘ legendärer Expressionismus-Anthologie Menschheitsdämmerung gewidmet, es treten unter himmelschreiend komischen falschen Namen (Frieder Schauffelen! Eugen Kalbfell!) Protagonisten wie Gottfried Benn und August Stramm auf und werfen sich in der schwäbischen Gaststätte Brettschneider die von Stolterfoht genialisch neu arrangierten Originalverse um die Köpfe.

Die Bände sind von Andreas Töpfer gestaltet, ab sofort lieferbar und in jeder Buchhandlung zu bestellen.

Christiane Heidrich: Spliss, 80 Seiten, 19,90 €

Tristan Marquardt: Scrollen in Tiefsee, 80 Seiten, 19,90 €

Ulf Stolterfoht: Fachsprachen XXXVII-XLV, 100 Seiten, 19,90 €

konkret erweitert

Es ist wohl die meistdiskutierte Hauswand der jüngeren Literaturgeschichte: Mittlerweile prangt an der Alice-Salomon-Hochschule Barbara Köhlers Gedicht „Sie bewundern“ und hat die vielgescholtenen „Avenidas“ von Eugen Gomringers ersetzt.

Mit ungleich weniger Lärm hat sich der Reclam Verlag nun zusammen mit Eugen Gomringer an eine Neuauflage der selbst schon Klassiker gewordenen Anthologie konkrete poesie gemacht, die erstmals 1972 erschienen ist. Und das ist ganz erfreulich: Die ursprünglich ausgewählten siebzehn Autoren von Friedrich Achleitner bis Wolf Wezel wurden nicht angetastet, was auch wirklich schade z.B. um die wunderschönen Textgebilde von Claus Bremer wäre, hinzu kommt aber ein ganzer Schwung neuer Gesichter: Michael Lentz und Cia Rinne dürften dabei für Lyrik-Leser die bekanntesten sein, Ute Bernhard, Friedrich W. Block, Ferdinand Kriwet und Axel Rohlfs hatten bisher eher Berührungspunkte im Kunstbetrieb oder der visuellen Kommunikation, Ingrid Isermannn und Volker Roman Seitz dürften am ehesten zu den dark horses zählen.

Auszug aus Hannes Bajohrs „Erotica“

Besonders aber die Aufnahme des für seine konzeptuelle, dem Digitalen verpflichtete Lyrik Hannes Bajohrs ist erfreulich: Hier zeigt sich ein Anknüpfungspunkt für die Konsequenz und Zukunftsfähigkeit der Form, Unkenrufen wie etwa dem von Michael Braun zum Trotz.

Eugen Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Reclam Verlag 2018, 271 Seiten, 8,80 €