Monde vor der Landung – Das Lesetagebuch (Teil 3)

Teil 3 (S. 353-520): From Florida with Love

Dass die Welt, wie wir sie durch die Augen Peter Benders sehen, sich nicht in einen konventionellen Erzählungsverlauf fügt, sollte wohl mittlerweile klar sein. Die Episoden aus seinem Leben, seine Gedanken und Theorien sind nur lose in den Verlauf der Geschichte eingebettet, die sich unaufhaltsam in Richtung einer Katastrophe entwickelt – um so viel schon vorwegzunehmen. Das letzte Drittel des Romans beginnt mit einer Überstellung Benders aus der Haft in eine Nervenklinik, wo er es schafft, die Gunst eines jungen Arztes zu erlangen, der ihm empfangsbereit für seine ungewöhnlichen Denkwege scheint. Charlotte richtet einen Brief an den Leiter der Klinik, in dem sie leidenschaftlich für ihren Mann argumentiert – tatsächlich scheint sie Erfolg zu haben: Bender wird entlassen und kehrt nach Hause zurück. Die wirtschaftlichen Probleme halten jedoch an, verschärfen sich sogar: Die Bender sehen sich gezwungen, nach Frankfurt zu ziehen, Bender ist enttäuscht über den ausbleibenden Erfolg seiner Arbeit, sein Buch ist nicht mehr erhältlich, seit der Verlag in Konkurs gegangen ist, auch ein Wiedersehen mit Johannes Lang, der inzwischen einen Schüler hat, der ihn verehrt, bringt ihn nicht weiter. Einzig die Korrespondenz mit Harry Manley von der Koresh-Gemeinde in Florida sorgt für Lichtblicke. Schweren Herzens geht Bender also wieder auf Stellensuche und wird bei einem Institut für junge Frauen fündig, dessen Leiterin Hedwig Michels sowohl von den Referenzen Benders als auch von seiner Persönlichkeit beeindruckt ist: Sie ist empfänglich für seine Ideen, auch erotisch beginnt es zwischen den beiden bald zu knistern. Währenddessen wird für Charlotte das Leben immer härter: Selbst Frisörbesuche sind für Juden nun nicht mehr erlaubt, weswegen sie dafür zu einer Nachbarin geht. Jedes Geräusch von der Straße, jede nebenbei gemacht Bemerkung bergen Gefahren. Eine Ausreise bleibt der einzige Ausweg, und während Bender sich immer mehr in die Idee verstrickt, er sei letztlich die Reinkarnation von Koresh Teed, eilt Charlotte von Reisebüro zu Reisebüro. Letztlich ist es aber Hedwig, der die Flucht aus Europa gelingt, bei der ihr Bender sogar behilflich ist. Sie steuert die Koresh-Gemeinde in Florida an, von der sich Bender bald alleine gelassen fühlt. Bombenalarme halten Frankfurt in Atem, immer wieder müssen die Bewohner in die Luftschutzkeller flüchten. Zuletzt ist es aber die Denunziation durch einen Sprachschüler, die das Schicksal Peter Benders besiegelt: Er wird verhaftet und wenig später im KZ Mauthausen ermordet. Seiner Frau Charlotte gelingt es noch eine Weile, sich zu verstecken, aber auch sie erlebt das Ende des Kriegs nicht mehr, sondern stirbt im KZ Auschwitz. Ein furchtbares Ende – das Setz wohl ein klein wenig abmildern will, wenn er im letzten Absatz eine Art Epilog anhängt, in dem der Journalist und Volkskundler Carl Carmer nach Kriegsende in Florida auf eine gewisse Hedwig Michel stößt, die sich um die letzten, steinalten Mitglieder der Koresh-Gemeinde kümmert. Die Flucht in Europa und die Nachricht vom Tod Peter Benders lassen sie nicht verzagen: Die Menschheit wird die wahre Lehre noch erfahren. In der Zukunft werden wir alle in der Hohlwelt leben.

Lieblingszitate:

„Seine Schritte klangen erstaunlich laut im frischen Schnee, kchrm kchrm kchrm, das Schlaraffenlandgeräusch mampfender Mäuler.“ (S. 373)

„Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung.“ (S. 423)

„In den Nächten besuchte ihn nun oft ein Propeller.“ (S. 442)

„Ein jedes Haus sieht aus, als summte es Beethoven.“ (S. 503)

Monde vor der Landung – Das Lesetagebuch (Teil 2)

Teil 2 (S. 177-352): We Are Scientists

„Ich erkannte nichts wieder“: Der erste Satz aus Rainald Goetz‘ Irre passt auch auf den Zustand von Peter Bender nach seiner Haftentlassung. Die Kinder sind auf unheimliche Weise größer geworden (obwohl es ja nur sechs Wochen waren!), Else, die Geliebte, nicht auffindbar. Auch die Wirtschaftslage ändert sich rasant: Die Inflation rast, alles muss schnell zu Geld gemacht werden, das seinen Wert im Stundentakt verliert. Seine wissenschaftliche Mission indes hat Bender nicht aus den Augen verloren: Der große „Menschheitskongress“ zur Verkündung des neuen Weltbilds ist sein großes Projekt, für das er auch seinen Mentoren Johannes Lang gewinnen will. Darüber hinaus schwebt ihm ein Buchprojekt vor, das natürlich ein großer Erfolg werden soll. Zur Sicherheit unterstützt Charlotte die Familie durch Verkaufsvermittlungen von Haushaltsgegenständen und unterrichtet Sprachschüler, was für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität des Haushalts sorgen. Politisch wird es turbulent, die Separatisten, die das Ende der Besatzung des Rheinlandes fordern, versuchen mit Gewalt die Macht an sich zu reißen. Bender, der mehr aus Versehen eine Rede vor ihnen gehalten hat, fühlt sich solidarisch. Allerdings ist es nicht so ganz einfach mit der Intention der Aufständischen: Soll sich der Rheinstaat Frankreich anschließen? Mehrmals ist auch von München die Rede, wo wohl ein Putsch im Gange sei – eine erste unheilvolle Aufwallung der nationalsozialistischen Bewegung – es ist das Jahr 1923. Bender lässt sich aber nicht von seinen Projekten abbringen: Gemeinsam mit Johannes Lang besucht er einen weiteren Vordenker der hohlen Welten, Karl Neupert. Die Begegnung verläuft allerdings ernüchternd, da Lang und Neupert sich in Nebensächlichkeiten verlieren. Als Geschenk erhält Bender einen kleinen Hohlglobus, den er sich stolz auf den Schreibtisch stellt – und so endet der erste Teil des Romans.

Ein kleiner Zeitsprung: Inzwischen ist Peter Benders Roman Karl Tormann erschienen, ansonsten scheint aber erst einmal alles wie immer: Die Kinder spielen, Bender sitzt mit originellen Gedanken im Garten. Dann ist auf einmal das Jahr 1933: Bender spricht auf einem Astrologenkongress in Stuttgart und erhält ungewohnt viel Zuspruch. Die Wissenschaft, ganz dem neuen Geist der Zeit verpflichtet, zeigt sich den unkonventionellen Sichtweisen gegenüber offen: Hohlwelt, aber auch weitere Theorien wie die Welteislehre scheinen plötzlich ungewöhnlich plausibel. Zuhause wird die Stimmung ungleich düsterer: Viele von Charlottes Nachhilfeschülern sind nun in der Hitlerjugend, Charlotte fühlt sich als Jüdin immer unwohler, auch erste Schikanierungen und nur scheinbar harmlose Streiche häufen sich in der Nachbarschaft; Bender wiegelt ab. Er ist schon beim nächsten Projekt: Er erhält eine Einladung zu einem Raketenstart, der den Beginn der bemannten Raumfahrt bedeuten soll; außerdem hat er eine Korrespondenz mit den ehemaligen Jüngern von Cyrus Teed, den Koreshianern, aufgenommen. Bald zieht sich aber die Schlinge auch um ihn zu: Er wird von der SA („wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und Mitarbeit in einer verbrecherischen Organisation“) festgenommen und landet im Gefängnis – bereits zum zweiten Mal.

Die manische Geschäftigkeit Benders, der fast ständig an neuen Theorien arbeitet (unerwähnt geblieben ist hier z.B. seine Idee einer Gewerkschaft der Mütter und die faszinierende Interpretation der Inflation als „das alternde Geld“) prägen das zweite Drittel von Setz‘ Roman. Einige historische Fakten wie die drohende Sezession des Rheinlands unter französischer Protektion lohnen sich auf den einschlägigen Wikipediaseiten nachzulesen, hier taucht Setz in wenig beleuchtetes historisches Territorium ein. Andere zeitliche Marker wie etwa die Machtergreifung Hitlers 1933 werden dagegen gar nicht erwähnt – die schleichende Bedrohungslage wird hier eher subkutan deutlich gemacht. Bruckstückhaft bleibt doch wieder frustrierend vieles: Warum wird Bender jetzt genau ein zweites Mal verhaftet? Immerhin gibt ein Gespräch mit seinem Nachhilfeschüler Hasso Keller nun ohne Umschweife Einblicke in das Bild des Hohlwelt-Universums („Wir sind innen. Der Erdboden geht weiter, und dann nach oben, er umspannt uns“) und der Theorie der Innenkugeln („Und in der Mitte der Kugel lebt noch eine andere Kugel, auf der alle Gestirne sind“). Gekonnt baut Setz auch Leitmotive wie den einzelnen Fußabdruck aus Robinson Crusoe in die Handlung ein: Dieser begegnet Bender in unterschiedlicher Form immer wieder und strahlt dabei fast etwas Tröstendes aus.

Lieblingszitate:

„Nicht einmal still gegen die Verhältnisse andenken kann ich.“ (S. 212)

„Ein Mann, der dre Gießkannen in einer Hand halten kann, während er mit der freien Hand herzlich den Gruß erwidert: Das war Karl Neupert.“ (S. 234)

„Ach, es war traurig, niemand sonst hatte so schöne Gedanken wie er. Und sie konnten nirgends hin.“ (S. 250)

„Vögel kennen das Geheimnis, aber nicht wir Piloten.“ (S. 325)

Monde vor der Landung ­­­­– Das Lesetagebuch (Teil 1)

Erzählungen, Theater, Sachbuch: Eine ganze Menge hat Clemens J. Setz in den letzten Jahren veröffentlicht ­­­­– aber keinen neuen Roman. Jetzt, acht Jahre nach Die Stunde zwischen Frau und Gitarre und zwei Jahre nach dem Georg-Büchner-Preis ist es soweit, Monde vor der Landung ist erschienen und hat erwartungsgemäß in den Feuilletons reüssiert.

Aber was hat es genau auf sich mit der Geschichte um den Weltkriegs-Veteranen und Hohlwelt-Theoretiker Peter Bender aus Worms? Dem soll ein Lesetagebuch ab heute auf den Grund gehen. Geplant sind drei Teile, die die 528 Seiten des Romans in handliche Einheiten aufteilen und ein close reading der Handlung darstellen, Querver- sowie Binnenverweise dokumentieren und Lieblingszitate sammeln.

Teil 1 (S. 7-176): Alzey to Anywhere

Von den sechs (!) Motti, die dem Buch insgesamt und dem ersten Teil vorangestellt sind, vielleicht das das schönste: „Er ist klug wie ein Rad“ (Elias Canetti). Aus den Aufzeichnungen Die Fliegenpein stammt es, die dieser Solitär der Literaturgeschichte 1992 im Carl Hanser Verlag veröffentlichte, und weist voraus auf den sehr eigenwilligen Denker Peter Bender, den wir im vorliegenden Roman näher kennen lernen.

Wir steigen direkt voll ein ins Geschehen: Es ist das Jahr 1920, und die Stadt Worms ist in ein karnevaleskes Treiben gehüllt. Peter Bender bahnt sich den Weg durch Marktstände, ein Mini-Zeppelin schwebt durchs Bild, ein Vogel Strauß zieht einen Leiterwagen mit Reklame für das örtliche Lichtspielhaus über den Markt. All das ergibt schon einmal ein schönes Stimmungsbild, das einer gewissen Anarchie nicht entbehrt und mit dem für Clemens J. Setz typischen, schillernden Beschreibungsfuror charakterisiert wird: Laub ist auf der Straße „knusprig gebraten“, ein Mann sieht aus, als würde er „fast nur aus Stirn bestehen“. Aber auch das Bendersche Weltbild deutet sich schon schemenhaft an: Der Vogel Strauß ist natürlich aus einem Ei, also einem kleinen Mond geschlüpft, der innerhalb der Erdschale niedergegangen ist – wie kann es anders sein!

Benders Ziel ist der Gasthof Zur Trompete, in dem sich ein ähnlich pittoreskes Treiben abspielt, denn er will beim Wirt einen Saal für einen Vortrag anmelden („Unter anderem wird es um den Erdballglobus gehen“). Mit Blick auf die zeitlichen Umstände – Worms ist Teil der von den Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg besetzten Rheinlandes, und die Rheinlandkommission hat einen strengen Blick auf politische Zusammenkünfte – gestaltet es sich etwas kompliziert, den Wirt von der nicht politischen Ausrichtung des Vortrags zu überzeugen. Darüber hinaus macht der durchaus auch etwas aufgeregte Bender einen weiteren Wirtshausbesucher auf sich aufmerksam, der ihm auf dem Heimweg folgt und versucht, für seine Belange („Das Rheinland den Rheinländern“) zu gewinnen.

Im Gespräch mit dem Wirt werden weitere Grundzüge von Benders Weltsicht deutlich: Wir machen Bekanntschaft mit den Vordenkern der Hohlwelt-Theorie John Cleves Symmes jr. und Dr. Cyrus Teed, die die konzentrischen Innenkugeln der Erde und vielmehr das ganze Universum als Hohlglobus postuliert haben (zumindest bei Dr. Teed hat ein relativ starker Stromschlag die Denkrichtung vorgegeben).

Im folgenden springt Setz zur Kindheit Peter Benders, der 1893 im schönen Kreis Alzey-Worms geboren wurde und, wie es scheint, ein recht aufgeweckter Junge war. Eine wichtige Kindheitsepisode ist der von einem Pferde-Omnibus (!) überrollte Großvater, der seitdem ein Holzbein trägt; erste Lektüren sind James Fenimore Cooper und Robinson Crusoe, dann die Nibelungensage, die einen sehr starken Eindruck hinterlässt.

Sprung zurück in die Erzählgegenwart: Offenbar steht Peter Bender 1920 schon mit dem Gesetz auf Kriegsfuß, der Briefträger bringt eine Strafanzeige wegen „Gotteslästerung und umtriebiger Geisteshaltung“. Aber auch mit der Ehe zu seiner Frau Charlotte nimmt er es nicht so genau: Ein „Spaziergang“ führt Bender zu seiner Geliebten Else, die ihren geistig verwirrten Bruder pflegt.

Zeitsprung zurück: Es ist das Jahr 1914, Bender meldet sich zum Kriegsdienst. Nach einer kurzen Zwischenepisode zurück im Jahr 1920 (Gerichtsverhandlung, Vortrag im Wirtshaus) folgen wir dem jungen Artilleristen nach Ostpreußen. Eins der bislang gelungensten Kapitel: Durch zahlreiche Absurditäten, Ellipsen und erlebte Rede liefert Setz eine überzeugende Schilderung des chaotischen Kriegsalltags. Die Landschaft ist menschenfeindlich kalt und nass, es herrschen fremdartige Rituale wie das Betasten der kalten Stirn von zurückgekehrten Jagdfliegern, und bald sitzt Bender selbst im Flugzeug, nur um kurz darauf bruchzulanden und durch die Fremde zu irren: „Aber es gab ja noch Gras, es gab sogar Weg, einen Rest der Chaussee, und zwei Tannen. Die Tannen hießen Bim und Bom. Sie hatten ganz tropfige Äste.“ Gut möglich, dass dies einer der zentralen Auslöser für die Weltverlorenheit, die völlig eigentümliche Sicht auf die Dinge ist, die Bender, den wir ja schon ein paar Jahre später kennen gelernt haben, pflegt. Der Ort des Kriegstraumas ist aber auch gleichzeitig Ort des ersten Glücks: Im Lazarett in Posen lernt Bender seine zukünftige Frau Charlotte kennen, mit der er in Worms seine Familie gründen wird. In der Gegenwartsebene geht es nicht so glücklich weiter: Nach der Verhandlung erhält er seinen Schuldspruch und kommt für sechs Wochen ins Gefängnis.

Was nehmen wir mit aus dem ersten Drittel über Peter Bender und sein Leben? Er hält Vorträge im Namen seiner „Menschheitsgemeinde“, ist also auf dem Pfad der Missionierung, lebt aber nicht konsequent das, was er so liberal predigt: Seine Beziehung zu Else hält er vor seiner Frau geheim. Er neigt zum Jähzorn; sein Denken ist im Mindesten originell zu nennen, was Kostproben zur Geschlechtertheorie mit Nibelungen-Einsprengseln zeigen, die Setz großzügig zitiert. Richtig kohärent wird allerdings die Hohlwelt-Theorie noch nicht, von der wir nur in Bruchstücken etwas erfahren: Da ist mal von konkaven Universen die Rede, dann von zahlreichen konzentrischen Innenkugeln, die teilweise aber auch schon wieder zerbrochen sind. Die Sonne dagegen hat etwa Apfelgröße und schwebt in der Mitte „unserer“ Kugel, wie Bender es schafft, einen Zellengenossen zu überzeugen. Davon hoffentlich bald mehr!

Lieblingszitate:

„Libellen, winzig kleine, ferngelenkte Kettensägen“ (S. 37f)

„Alle Menschen gehen mit aufrechten Oberkörpern umher, durch Hohlwege voll schwarzem Holunder.“ (S. 39)

„Jawohl, jetzt ordentlich was hineinerzählen in das rauschende Gerät, wie in eine Wiesenblume!“ (S. 99)

„Verlorene Würfel, das sind die Milchzähne der Natur.“ (S. 146)

Musiktipp:

Eine Hymne an Dr. Cyrus („Koresh“) Teed, die der Schweizer Liedermacher Guz 200 auf seinem Album We Do Wie Du veröffentlicht hat:

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung, Suhrkamp Verlag, 528 Seiten, 26 €

Laternenpfähle, Hühner, Weinberge

Am 2. September 2019 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein kleines Porträt über Wolfram Lotz, in dem die Journalistin Theresa Hein den Autoren im Elsass besucht.

Gerade hat Sebastian Hartmanns am Deutschen Theater Lotz‘ neues Stück, das Theatergedicht Die Politiker zur Aufführung gebracht, es geht in dem Porträt aber auch um das Misstrauen gegenüber dem großen Erfolg mit dem Stück Die lächerliche Finsternis und dem Schreiben überhaupt: Ein Zustand, der Wolfram Lotz auf die Idee brachte, ein so genanntes „Totaltagebuch“ zu führen:

Als Lotz im Elsass ankam, 2017, nahm er sich vor, ein Tagebuch zu schreiben, auch
ein bisschen, weil er nicht wusste, was er sonst schreiben sollte. Ein „Totaltagebuch“ wurde es. Lotz stand um acht Uhr morgens auf und schrieb Laternenpfähle, Hühner, Weinberge in das Tagebuch, und alles, was ihm dazu einfiel, mit einer Pause für die Familie am Nachmittag, eine „Wahnsinns-Struktur“, sagt er, „die brauche ich aber einfach. Ich bin jetzt nicht total irre geworden dabei, aber gegen Ende wurde es schwierig“, das gebe er zu. „Irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich schon geschrieben hatte und was nicht, oder wem ich was erzählt hatte. Oder was ich jetzt eigentlich geschrieben und was ich nur gedacht habe.“

Stand 2019 gilt das Totaltagebuch als gelöscht: Lotz gibt an, es selbst vernichtet zu haben. Dass es jetzt nun doch als Buch erscheint, erklärt der Verlag mit der Tatsache, dass zumindest ein Teil des Textes in Form einer E-Mail vorliegt, die Wolfram Lotz an einen Freund geschickt habe.

Und nun ist die Heilige Schrift also da, Band 1 jedenfalls. Schwer wiegen die über 900 Seiten in der Hand, luftig typografisch gestaltet kommt dagegen das Äußere daher. Und wagt man sich hinein in das Riesenwerk, gerät man unversehens ins, ja, Schmökern: Kurze Absätze, wenig Interpunktion, Schlag auf Schlag, Hakenschlag auf Hakenschlag lässt sich die Spur von Wolfram Lotz‘ Gedankengängen verfolgen.

Zu Beginn ist es auch die Form selbst, um diese Gedanken kreisen: Soll das Tagebuch womöglich ins Internet gestellt, ein Blog werden? Die technischen Hürden lassen den Autor davor zurückschrecken. Und so ist die Heilige Schrift jetzt ein Blog in Buchform geworden. Ein Twitterfeed ohne Twitter, kurioses Gegenstück etwa zu Jan Böhmermanns Twitter-Tagebuch der Jahre 2009-2020, das der Verlag Kiepenheuer & Witsch 2021 in einer edlen Hardcover-Ausgabe unter dem Titel Gefolgt von niemandem, dem du folgst herausbrachte, oder zu Stefanie Sargnagels Statusmeldungen, die Wolfram Lotz witzigerweise an einer Stelle in seinem Tagebuch liest („schreibmäßig eine Art Buttermaschine“).

Darüber hinaus wächst sich die Heiligen Schrift mit dem zeitlichen Abstand des Jahres 2022 als ein Zeitdokument aus, in dem etwa Feuilleton-Debatten wie der Streit um das Eugen-Gomringer-Gedicht an der Hauswand der Alice-Salomon-Hochschule, politische Dramen wie der Absturz von Martin Schulz, aber auch Fernsehsendungen und Alltagsklatsch konserviert werden. Hier begibt sich Wolfram Lotz zuweilen auf das Terrain von Walter Kempowski, der in seinem Buch Bloomsday ’97 einen Tag lang durch die 37 Kanäle seines Fernsehers zappte und hemmungslos mitschrieb, was vor ihm flimmerte.

Dass die 912 Seiten der Heiligen Schrift durchweg leicht und entspannt zu lesen sind, wäre aber trotz des beeindruckenden Durchhaltewillens des Autoren übertrieben: Oft gerät Wolfram Lotz ins Schimpfen, wütet gegen unliebsame Kolleginnen und Kollegen oder ärgert sich über seine Umgebung. Dann vertraut er dem Tagebuch aber auch wieder die erhebend schöne, stille Momente an, etwa wenn er seine Kinder beim Spielen beobachtet oder Freunde trifft, die er lange nicht mehr gesehen hat.

Und da stößt dann auch das Tagebuch an seine Grenzen: Einer der berührendsten Momente in der Heiligen Schrift ist ein Treffen von Wolfram Lotz und Dorothee Elmiger in Zürich, bei dem der Autor sofort realisiert: „Ich werde das Gespräch hier mit Dorothee nicht aufschreiben, das ist sofort klar/Das soll zwischen uns bleiben, so interessant und schön wie es ist“.

Wolfram Lotz: Heilige Schrift I. S. Fischer Verlag, 912 Seiten, 34 €

Als nächstes wird sich Wolfram Lotz übrigens wieder einer ganz anderen Form widmen: Für die nächste Ausgabe Lesereihe Meine drei lyrischen Ichs am 5. Mai in München ist er mit neuen Gedichten angekündigt.

Stacheldrahtzaun, Drachenstahlhaut

Bettina Wilperts neuer Roman Herumtreiberinnen ist ein Ereignis: Auf drei Zeitebenen erzählt er von Tyrannei, Frauenhass und darüber, was das „Wegsperren“ mit Menschen macht.

Wie schon Nichts, was uns passiert überzeugt auch dieser Roman durch seine genaue, fast strenge Komposition: Während sich die Schlinge um seine Protagonistinnen zunehmend enger zieht, wechselt er virtuos die Ebenen, jede davon wirkt authentisch, ist akribisch recherchiert und auf ihre eigene Weise mitreißend geschrieben.

Es beginnt mit einer lockeren Sommererzählung in der DDR der frühen achtziger Jahre. Die 17-jährige Manja und ihre beste Freundin Maxie schwänzen die Schule, träumen in den Tag hinein, Maxie vom Weltraum, Manja vom Ausreißen. Nicht zufällig teilt sich Manjas Freundin ihren Vornamen mit Maxie Wander, einer österreichischen Schriftstellerin, die in der DDR den berühmten Interview-Roman Guten Morgen, du Schöne veröffentlicht hat: Die durchweg aus der Ich-Perspektive wiedergegebene Handlung hat ebenfalls etwas Dokumentarisches, als hätte Bettina Wilpert reale Person porträtiert: Fiktive Protokollliteratur, gewissermaßen. Dieser kurze erste Teil des Romans endet indes abrupt: Manja wird von der Volkspolizei verhaftet, nachdem sie mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel in dessen Wohnheim im Bett erwischt wurde und findet sich auf der venerologischen Station in einem Backsteingebäude in der Leipziger Lerchenstraße wieder.

Die Tripperburg heiße nicht umsonst Tripperburg, sagte sie, der Mann nickte. Ich stehe unter Verdacht, eine Geschlechtskrankheit zu haben, man würde mich gleich untersuchen auf Gonorrhoe und Streptokokken und so weiter, alles was solche wie ich eben hätten. Was Untersuchung bedeutete, erklärten sie mir nicht. Sie sagte: Laut Paragrafen soundso sei es gesetzeswidrig, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten; ein Luftzug brachte einen Geruch in den Raum, der mich an Birnen erinnerte. Alle Geschlechtspartner von mir müssten ebenso untersucht werden, bekämen eine Vorladung, ich solle ihre Namen nennen, für ihre Gesundheit. Ich sagte nichts. Appellieren hilft bei der nichts, meinte die Frau zu dem jungen Mann gewandt, als könnte ich sie nicht hören. Ich wiederholte, ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr. Sie seufzten, sie legten den Stift auf das Blatt, legten das Blatt in einen Ordner, klappten den Ordner zu. Sie führten mich in einen anderen Raum, ich fror unter dem grauen Kittel.

Im zweiten Teil des Romans folgt zunächst ein Sprung ins Jahr 2001, wo Robin, die nächste Hauptfigur, die wir auf ihrem Weg begleiten werden, die Ereignisse des 11. September und den Einmarsch der USA in Afghanistan erlebt. Es ist nur ein kurzer, aber einschneidender Augenblick der Politisierung für Robin, das nächste Mal treffen wir sie erst 2015 wieder, als sie sich mit der Situation der vor dem Krieg in Syrien Geflüchteten zu beschäftigen beginnt.

Doch zuvor zieht Bettina Wilpert noch eine weitere Zeitebene in den Roman ein, und der Fokus schwenkt auf das Frühjahr 1945: Lilo ist die Tochter kommunistischer Widerstandskämpfer, deren Zelle aufgeflogen ist, wird nach dem Prozess von ihrer Familie getrennt und durchläuft eine Gefängnisodyssee, die sie schließlich in dasselbe Gebäude in der Lerchenstraße führt, wo auch knapp vierzig Jahre später Manja einsitzt.

Herumtreiberinnen sind drei Romane in einem – und das auf nur knapp 260 Seiten. Tief beeindruckend schafft es Bettina Wilpert, den Wegen ihrer drei sehr unterschiedlichen Hauptfiguren zu folgen und erzählt leidenschaftlich vom Schrecken des Naziregimes, den grauen achtziger Jahren in der DDR und einer Gegenwart, in der Robin zwischen Tinder-Matches und Büro-Alltag langsam die wechselhafte Geschichte des Gebäudes in der Lerchenstraße entdeckt.

Dieses ist nämlich, mittlerweile haben wir 2016, nun saniert und zu einer Unterkunft für geflüchtete Menschen umfunktioniert worden; Robin, die, obwohl mit ihrem Studium in Sozialer Arbeit unzufrieden, auf Jobsuche war, arbeitet in der Verwaltung und entdeckt bei Kellerarbeiten bergeweise Akten aus der DDR-Zeit.

Manjas Erlebnisse in dem von Stacheldraht eingefassten Backsteingebäude der venerologischen Station („auf der Mauer sehen wir Stacheldrahtzaun und denken: Drachenstahlhaut“, heißt es einmal), die in den drei Zeitebenen des Romans die Mitte einnehmen, sind auch so etwas wie das Herzstück von Herumtreiberinnen. Auch ist nur dieser Teil durchweg aus der Ich-Perspektive erzählt, was die Ungerechtigkeiten, die Manja widerfahren, beim Lesen noch näherkommen lässt – seien es die sadistischen, aus medizinischer Sicht unnötigen Morgenuntersuchungen, denen sich jede Insassin unterziehen muss, oder die brutale Hackordnung der Gefangenen untereinander. Es wird immer klarer, dass der vorgebliche Grund, der Schutz der Gesellschaft vor Geschlechtskrankheiten, nur mehr Mittel zum Zweck ist, unerwünschte oder abweichlerische Frauen wegzusperren und sie für ihr Zuwiderhandeln gegen die staatliche Ordnung zu bestrafen. Am frappantesten wird das bei der Geschichte Marions, einer Mitgefangenen deutlich, die als Edelprostituierte zunächst von der Stasi als nützliche Informantin eingesetzt wird, dann aber eine weitere Zusammenarbeit verweigert und ebenfalls in der Lerchenstraße zwangseingewiesen wird.

Es sind kleine Binnenerzählungen wie diese, die Bettina Wilpert besonders gut gelingen: Auch in der Zeitebene um Lieselotte Kramer, der Tochter des kommunistischen Widerstandskämpfers, die sich zäh darum bemüht, auch politisch tätig werden zu dürfen und erst ganz am Ende ihrer Geschichte in der Lerchenstraße inhaftiert wird, verarbeitet Wilpert zahlreiche, Alltagsepisoden, die ein faszinierendes Kolorit Leipzigs in der Zeit des Zweiten Weltkriegs bilden.

Da empfand Lilo zum ersten Mal Wut auf die Eltern – und die Nazis. Sie war zehn und wurde nach wie vor nicht ernst genommen und in die Geheimnisse der Erwachsenen eingeweiht. Wann würde die Mutter sie endlich als Gleichberechtigte behandeln? Sie war sauer auf ihren Vater, dass er vor ihnen geflohen war. Sie verstand immer mehr von Politik, durchschaute noch nicht alles, wusste immerhin, dass die Nazis ihr ihren Vater genommen hatten, diese Schweine. Wenn sie nun SA-Männern auf der Straße begegnete, strafte sie sie mit bösen Blicken, aber im Gewusel auf dem Bürgersteig fielen die drei Kinder, die allein unterwegs waren, nicht auf.

Nach Nichts, was uns passiert ist Bettina Wilpert mit Herumtreiberinnen ist ein weiterer, äußerst bemerkenswerter Roman gelungen. Er wirft Schlaglichter auf Zeiten politischen Widerstands, grausame staatliche Willkür und nicht zuletzt die wechselhafte Geschichte ein und desselben Gebäudes in der Lerchenstraße als Ort, an dem sich niemand gerne aufhält.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen. Verbrecher Verlag, 266 Seiten, 25 €

Das Leben, nichts als buntbemalte Pappe

Sascha Macht meldet sich nach Der Krieg im Garten des Königs der Toten mit seinem zweiten Roman zurück. Spyderling ist in vielerlei Hinsicht eine Steigerung des Debüts: Noch länger, noch postmoderner, noch gewagter.

Es geht um einen geheimnisumwobenen Brettspielautoren. Aber es geht auch um die tragische Geschichte der Republik Moldau und ihrer abtrünnigen Provinz Transnistrien. Und die nicht minder aberwitzige Geschichte der Hauptfigur Daytona Sepulveda, aus deren Perspektive sich die Handlung Schicht für Schicht entfaltet und, nun ja, spinnwebenartig ausbreitet und verzweigt.

Daytona Sepulveda ist in Arizona aufgewachsen. Ihren Vornamen verdankt sie der Autobegeisterung ihres Vaters, er bezieht sich auf die berühmte Motorsport-Rennstrecke in Florida. Ihr Nachname verweist auf die südamerikanische Herkunft ihrer Familie; zugleich ist er auch ein metatextueller Verweis auf den berühmten chilenischen Autoren gleichen Namens, der 2020, noch zu Beginn der Pandemie an einer Covid-Erkrankung in Spanien gestorbenen Luis Sepúlveda. Mittlerweile in Leipzig ansässig, könnte sie, gäbe es sie wirklich, Sascha Macht dort durchaus getroffen haben: Er lebt seit seinem Studium am Deutschen Literaturinstitut hier. Sepulveda ist eine der großen Hoffnungen der Brettspielwelt: Zu ihren ersten Erfolgen zählen Spiele wie Conca d’Oro, ein Spiel über die Entstehung und den Aufstieg der sizilianischen Mafia im goldenen Becken um Palermo, und The Troubles, eine Nordirlandkonflikt-Simulation; aktuell arbeitet sie an ihrem neuen Projekt, das sich um einen Motorradclub mit dem Namen „Devil‘s Dice Motorcycle Club“ dreht. Sie kommt nur schwer voran, und zu allem Überfluss plagt sie sich mit Selbstzweifeln:

Ein Brettspiel – was ist das überhaupt? Ich bin der Meinung: so etwas wie komprimierte Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: eine Rückschau in die Vergangenheit, ein Umgang mit der Gegenwart, ein Blick in die Zukunft. Oder anders ausgedrückt: das Leben in seiner Fülle und Komplexität, verarbeitet in bunt bemalter Pappe. Das Brettspiel veranschaulicht, macht vertraut und, ja, vereinfacht auch, meistens, leider. Es bietet uns Mittel und Wege. Nur wofür? Das ist die Frage.

Im Laufe des Romans werden noch zahlreiche weitere – natürlich sämtlich fiktive – Brettspiele erwähnt und extensiv beschrieben werden: Über Superhelden zur Zeit der Weimarer Republik, eine Käserei, in der es drunter und drüber geht, den Wiener Kongress, aber um 300 Jahre in die Zukunft versetzt, und einige mehr. Dieser Einblick in eine Subkultur, die nach völlig eigenen Regeln zu funktionieren scheint und starke Nerd-Züge trägt, hat Sascha Macht sichtlich Spaß gemacht. Aber sie kann auch als eine Parallele zum Literaturbetrieb gesehen werden: Es gibt große und kleine, ja, auch hier heißen sie ja: Verlage, erfolgreiche Starautoren und die jungen Wilden, zu denen sich Sepulveda noch zählen kann. Auch die Praxis der Autorenförderung und Stipendienvergabe ähnelt, zumindest nach Darstellung des Romans, witzigerweise stark derjenigen des Literaturbetriebs.

Und hier dringen wir nun langsam zum Ausgangspunkt vor: Zusammen mit sieben anderen Vertreter*innen ihrer Zunft hat Daytona Sepulveda die Einladung zum Aufenthalt in der moldauischen Villa des berühmten Brettspiel-Autoren Spyderling erhalten. Keiner kennt ihn – keiner weiß, wie er aussieht – ein Thomas Pynchon der Brettspielszene, gewissermaßen. Seine Spiele sind von einer verstörenden Genialität: Sie treiben ihre Spieler*innen an den Rand des Wahnsinns, und, eine Spezialität Spyderlings: Sie können nicht in Gruppen, sondern ausschließlich allein, also von einer Teilnehmer*in gespielt werden.

Während Daytona sich mit ihren Mit-Stipendiat*innen bekannt macht, namentlich Ronny Gebauer, Johanna van Tavantar, Arno Picardo, Elke von Manteuffel, Clark Nygård, King Trakto Sherpa, und, jüngster der Gruppe und als Wunderkind geltende Campbell Campbell, stellt sich nicht nur bei der Leser*in langsam eine gewisse Erwartungshaltung ein: Worum dreht sich ihr Aufenthalt in der monumental-düsteren Villa mitten im Wald eigentlich genau? Wird der mysteriöse Spyderling wohl persönlich auftauchen und zu seinen Adepten sprechen? Diese Frage rückt auch für die Handelnden mehr und mehr in den Vordergrund. Während aber ein Teil der Autor*innengruppe sich an der ausgezeichneten Verpflegung labt und die Vorzüge von Swimmingpool, Kamin- und Rauchzimmer (natürlich mit Spielsammlung) auskostet, ist es vor allem an Daytona, sich auf Spurensuche zu begeben. Hier wird Spyderling zum Detektivinnenroman: Daytona sammelt Hinweise, durchstreift den verwinkelten Garten des ausufernden Grundstücks und versucht, Eintritt in das dritte, laut Auskunft dem Hausherren vorbehaltene Geschoss der Villa zu erlangen. Vergeblich.

Auf der Verlagswebseite liest Sascha Macht selbst einen kurzen Auszug aus dem Roman.

Sascha Macht nimmt sich viel Zeit für die Hintergrundgeschichten seiner Protagonist*innen. Großen Raum nimmt auch die Vorgeschichte der Hauptfigur ein: So hat Daytona Sepulveda in Brettspielkreisen den Spitznamen „Die Verschwundene“, seit sie sich mit zwei Freundinnen auf einer Reise im Urwald von El Salvador verirrt und als einzige zurückgekehrt ist. Als zusätzlichen Creepiness-Faktor reichert Sascha Macht diese Geschichte mit realen Versatzstücken des Verschwindens der niederländischen Touristinnen Kris Kremers und Lisanne Froon an, die im Jahr 2014 Urwald von Panama verschwanden, und von denen, ganz ähnlich wie es bei Daytona der Fall war, in einer später aufgefundenen Digitalkamera rätselhafte Aufnahmen auftauchten, die Hobbydetektive in Internetforen bis heute auswerten.

Zwei Ereignisse bringen die Handlung, als sie sich langsam ohne Aussicht auf Auflösung zu verlaufen droht, noch einmal auf Trab: Ein fröhlicher Ausflug in die moldauische Hauptstadt Chisinau inklusive abgedrehter Segway-Tour durch das Stadtzentrum mutiert zu einer alkohol- und drogengeschwängerten Partynacht mit der Band Taxi Terreur & The Hitlerbabies. Aufgrund der Verkettung verschiedener Umstände, die ein halluzinogener Trip Daytonas nicht leichter nachrekonstruierbar macht, schließt sich die Band der Autor*innengruppe auf ihrer Rückfahrt in Spyderlings Anwesen an, wo unter anderem die Suche nach einem sowjetischen Weinlager in unterirdischen Katakomben unterhalb des Gartengrundstücks in Angriff genommen wird. Aber auch ein ganz besonderes Spiel, das auf einmal wie aus dem Nichts auftaucht, zieht nach und nach alle Anwesenden in Bann, Maunstein, eine Art Mischung aus Science-Fiction, Horror und absurder Space-Oper. Für ganze Passagen wandelt sich der Roman nun zu einer originalgetreuen Wiedergabe des Spielinhalts, den sich die Mitspieler*innen mal mehr, mal weniger regelgetreu gegenseitig vortragen.

Spyderling ist ein großer Lesespaß, der der Leser*in aber einiges abverlangt: Geschult an Vorbildern wie Roberto Bolaño, dessen Roman Das dritte Reich zu den großen Beispielen der Brettspiel-Literatur zählt, fährt Sascha Macht stilistisch ein reiches Angebot auf: Seitenlange Aufzählungen, Erklärungen und Ausführungen zu minimalen Handlungsdetails, die jeden Rahmen sprengen und ein nihilistischer Verweisfuror, der aus dem Lehrbuch des postmodernen Schreibens stammen könnte. Trotzdem ist Sascha Macht nicht nur ein Epigone seiner großen Vorbilder: Seine bunte Truppe schildert er mit viel Sympathie für ihre abseitigen Lebensentwürfe und einer klugen Rückkopplungs-Schleife auf den eigenen Betrieb. Und nicht zuletzt ist die Hauptfigur Daytona Sepulveda der perfekter Anker des Romans: Mit ihrer Vorgeschichte wächst sie der Leser*in sofort ans Herz (und wird wohl als eine der schillerndsten Hauptfiguren der jüngeren deutschsprachigen Literatur im Gedächtnis bleiben), als Detektivin ist sie gleichzeitig der rote Faden, den dieses seitenstarke Buch dringend braucht, in dem man sich sonst heillos verlöre – oder zumindest um den Verstand gebracht würde: Eben als wäre er ein Spiel von Spyderling.

Sascha Macht: Spyderling, DuMont Buchverlag, 480 Seiten, 25 €

Lebenszeichen aus Leipzig

Ironie des Schicksals: Am Tag der Absage der Buchmesse erreicht mich ein Brief von Sascha Kokot aus Leipzig, der mir sein Heft was wir waren schickt: 15 Gedichte, hellgrau auf weiß gesetzt, minimal gestaltet, und ein Gruß „bis bald zur Messe in Leipzig“.

Aber zum Glück sind Gedichtbände nicht an tagesaktuelle Ereignisse gebunden. Über Sascha Kokots Gedichte habe ich zuletzt anlässlich der Veröffentlichung seines Debütbands Rodung im Jahr 2013 in der Edition Azur geschrieben, ebendort erschien 2017 auch sein zweiter Band Ferner. Beide sind, jenseits der verlagsbranchenüblichen Neuerscheinungszyklen, nach wie vor sehr lesens- und empfehlenswert.

Was ich an Sascha Kokots Gedichten mag, und was auch dieses neue, als Off-Projekt von dem Hamburger Kurator Carl-Walter Kottnik in einer kleinen, handnummerierten Auflage herausgegebene und von der Künstlerin Ajete Elezaj gestaltete Heft ausmacht, ist die Knappheit, die Reduktion auf das Wesentliche, aus der dann das Besondere hervorsticht:

die Autos schlingern
den Schnee aus der Kurve
heute Morgen fiel
in schweren Flocken
die Stille herab
hielt den Tag an
breitete ein Licht aus
in dem noch jede Spur fehlte

Da kommt es dann gar nicht mehr so sehr darauf an, ob es eine Autofahrt, ein Blick aus dem Fenster, ein Huster im Treppenhaus oder, immer wieder, als Leitmotiv, die eigene Katze ist, der sich das Gedicht zuwendet. Das „klare Weiß“, wie es an einer anderen Stelle heißt, die kurzen Augenblicke der Ruhe und des Innehaltens sind es, die es Sascha Kokot schafft, mit einem feinen Sensorium einzufangen.

Hervorzuheben ist noch das Rätselhafte, das Sascha Kokots Gedichte seit seinem zweiten Band durchzieht, in dem etwa unvermittelt im Untergrund lebende Löwen auftauchten. Seine Entsprechung findet es hier gleich im ersten Gedicht des Hefts, das wie eine Urlaubspostkarte anfängt („sind gut angekommen“), aber dann lediglich eine Autofahrt durch den Schnee beschreibt und dann mit einem schnöden „schön ist es hier“ abbricht – aber ist das nicht auch die Hauptsache?

was wir waren von Sascha Kokot ist nicht im Handel erhältlich, kann aber über mail@saschakokot.de direkt bei ihm angefragt werden; die beiden Bände Rodung und Ferner sind nach wie vor in der Edition Azur lieferbar.

Fitzcarraldo in Florida

Franzobel folgt den Spuren des spanischen Conquistadoren Hernando de Soto und blickt tief in die Psyche der europäischen Eroberer.

Hernando, im Buch Ferdinand genannt, ist bereits ein Held, als er seine größte Expedition startet. Eroberungszüge hatten ihn nach Panama und Nicaragua geführt, und, zusammen mit Francisco Pizarro, in das Inkareich in Peru. Doch wo ist Eldorado, die Stadt aus Gold? Ferdinands nächstes Ziel ist Florida.

Eine achthundert Mann starke Expedition macht sich auf den Weg. Doch ihre Reise, die sie bis ins heutige Kansas führen soll, ist wenig von Glück beschieden: Widerständige Ureinwohner, die brutal niedergemetzelt werden, undurchdringliche Sumpfgebiete, Fieber und Kälteeinbrüche stehen den ruhmreichen Eroberern im Wege, die am Ende gar nicht mehr so ruhmreich daherkommen: Gerade einmal zweihundertelf von ihnen kehren 1543, nach vier Jahren Irrfahrt, lebend zurück. Ferdinand ist nicht darunter.

Die menschlichen Extremzustände zwischen Wahnsinn und blutrünstiger Wüterei zeichnet Franzobel, der zuletzt mit seinem Roman Das Floß der Medusa die Schrecken des Meeres erkundet hat, mit dickem Pinselstrich: Da werden die Säbel geschwungen, die Pfeile fliegen, es wird skalpiert, geköpft und zerstört wie in den Serien Game Of Thrones und The Walking Dead zusammen. Der Fokus der Erzählung liegt dabei auf Ferdinands engstem Vertrautenkreis, seinen Kumpanen, die klingende Namen tragen wie Luis de Moscoso, genannt Moskito, Nuño de Tobar, Francisco de Maldonado, Juan de Añasco und Rodrigo Ranjel, Spitzname „Stummel“, dazu kommen noch die beiden Kleinkriminellen Bastardo und Cinquecento, der Schiffbrüchige Elias Plim, der eine haarsträubende Geschichte über sein Schicksal parat hat und diverse Nebenfiguren, die kräftig zum Kolorit des Romans beitragen. Ein witziges Detail: Franzobel beteuert in seiner Danksagung, die Geschichte möglichst wahrhaftig erzählt haben zu wollen – tatsächlich wird hier so wild fantasiert und in Nebenhandlungen abgeschweift, dass es unmöglich ist, überhaupt noch etwas von dem Geschehen für bare Münze zu nehmen: Quigley, der englische Koch der Truppe etwa, erfindet im Roman sowohl das Football-Spiel als auch Coca-Cola; der Schwabe Wilhelm Friedrich Erasmus Müggenpflug, genannt Gunkel, gibt den Kulturmenschen und sammelt Kunsthandwerk, und der niederländische Arzt Cord Fenk, Sohn eines Wurstmachters, ist berüchtigt für seine Aderlässe. Ein buntes Völkchen sehr von sich selbst überzeugter Europäer also, die nach und nach erkennen müssen, dass ihre Mission ein heilloses Himmelfahrtskommando ist, und in ihren kleinlichen Bemühungen dadurch um so lächerlicher erscheinen.

Allmählich war selbst er das Erobern leid. Der Feldherr fühlte, dass er dieses Erobern im Grunde verabscheute. Wo war sein Glaube, seine Überzeugung? Diese Expedition hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Aber was war das für eine weiche, unsichere Kreatur, die da aus der gepanzerten Larve seines früheren Lebens geschlüpft war? Ein unerschrockener Held? Nein, ein unsicherer, verzweifelter, von Eifersucht geplagter, verwirrter Mensch, der seine Getreuen ins Verderben führte.

Zwei Handlungsstränge flicht Franzobel in die Geschichte dieser grandios lächerlichen, an Werner Herzogs Fitzcarraldo erinnernden Expedition noch ein: Da ist zum einen der Notar Turtle Julius, der das Testament des Grafen von Orgaz zu vollstrecken hat und mit an Irrsinn grenzender Beharrlichkeit dem Alleinerben Ambrosio Bastardo, der von seinem Glück nichts ahnt, bis in die Neue Welt folgt – und dabei am Ende so übel zugerichtet wird, dass er den Ureinwohnern wie das gefürchtete Fabelwesen Wendigo vorkommt. Zum anderen, und das ist eigentlich der vielversprechendere der beiden, der aber leider viel zu kurz kommt: In der Gegenwart erhält der Anwalt Trutz Finkelstein ein Schreiben, in dem die amerikanischen Ureinwohner die Restitution des Gebiets der Vereinigten Staaten fordern und macht sich, allen widrigen Umständen zum Trotz, tatsächlich daran, eine Sammelklage vor dem Obersten Gerichtshof anzustrengen. Auf den letzten Seiten des Romans, als es fast schon zu spät scheint, wird auch dieser Strang wieder aufgegriffen und bildet den krönenden Abschluss einer wahren tour de force durch das vielleicht düsterste Kapitel der europäischen Kolonialgeschichte.

Franzobel: Die Eroberung Amerikas. Zsolnay Verlag, 544 Seiten, 26 €

Der Beitrag erscheint als Teil der Aktion #buchpreisbloggen zu den Nominierten des Deutschen Buchpreises 2021 parallel auch auf www.deutscher-buchpreis-blog.de.

Wir machen Bücher (19.8.-19.9.2021)

Gestern startete die auf vier Wochen angelegte Veranstaltungsreihe „Wir machen Bücher“, für die sich eine ganze Gruppe unabhängiger Verlage im Namen der Bibliodiversität zusammengetan haben.

Zum Auftakt diskutierten Susanna Dulkinys, Birgit Schmitz, Daniel Klotz und Erik Spiekermann mit Christoph Biermann über das Thema „Hacking Gutenberg: Buchdruck im 21. Jahrhundert“, umringt von Druckerpressen, Farbeimern und Bleilettern in allen Größen und Formen.

Birgit Schmitz und Erik Spiekermann haben in diesem Jahr gemeinsam den Letterpress-Verlag TOC Publishing gegründet. TOC steht kurz für „The Other Collection“ – und eben das ist auch der Schwerpunkt des Verlags: Höchst aufwendig gesetzte, gestaltete und produzierte Bücher, in streng limitierter Auflage von 998 Stück, bilden nach und nach eine exquisite Sammlung an Weltliteratur. Auffällig: Die Bücher von Autorinnen wie Deborah Levy oder Chimamanda Ngozi Adichie erscheinen ausschließlich in englischer Sprache, was ganz einfach in der Internationalität der Buchsammler-Szene begründet sei, so Birgit Schmitz – klug ist dabei auch der Preis gewählt, wie Erik Spiekermann erklärt: Die Bücher seien zwar mit einem Verkaufspreis von 138 € nicht gerade billig, aber eben auch nicht so unerschwinglich, dass sie nur für die absoluten Luxus-Sammler erschwinglich seine, deren Objekte oft in die Tausender gingen.

Die Veranstaltungsreihe „Wir machen Bücher“ geht weiter am 26. August mit einem Gespräch über den Roman Lux von Olivia Kuderewski, der im Verlag Voland & Quist erschienen ist. Weitere Termine sind auf der Seite der Galerie p98a zu finden, wo auch alle Veranstaltungen stattfinden. Beteiligt an der Intiative #wirmachenbuecher2021 sind außerdem noch der Berenberg Verlag, der Dörlemann Verlag, Jovis und der Birkhäuser Verlag, der ebenfalls neu gegründete Kanon Verlag, der Kehrer Verlag, der Ladislaus Bean Verlag, der Peter Hammer Verlag, der Verlag Schöffling & Co., der Secession Verlag und der Verbrecher Verlag.

Westwärts, dachte ich, westwärts!

Matthias Nawrat durchleuchtet in Reise nach Maine ein nicht ganz einfaches Mutter-Sohn-Verhältnis.

Nach dem stilistisch hochavancierten Roman Unternehmer und den erzählerisch so detailverliebten wie verspielten Geschichten in Die vielen Tode unseres Opas Jurek hat Matthias Nawrat zur Ich-Erzählung gefunden. So war Der traurige Gast ein, wie es zumindest den Anschein hatte, autobiografisch gehaltener Erzähltext über einen Schriftsteller in Berlin, der auf verschiedene Personen trifft und deren Lebensgeschichten aufschreibt. Fehlte in diesem Roman mitunter ein wenig der rote Faden, ist der nun hier ganz klar gegeben: In Reise nach Maine fliegt eben dieser Schriftsteller mit seiner Mutter für zwei Wochen in die USA, um erst New York und dann die Landschaft an der Ostküste zu erkunden. Dann bringen jedoch gleich zu Beginn zwei Ereignisse die Planung durcheinander: Die Mutter kündigt an, statt über die zweite Hälfte des Urlaubs Bekannte zu besuchen, die gesamte Zeit mit dem Erzähler zu verbringen, was nicht zu dessen Vergnügen beiträgt. Dann stürzt sie auch noch unglücklich und verknackst sich die Nase.

Ansonsten verläuft die Reise aber eher ereignislos: In New York ist es unerträglich heiß, in Maine eingetroffen, kommt das Mutter-Sohn-Paar bei einer Cousine ihres New Yorker Nachbarn unter, der ihnen spontan den Kontakt vermittelt hat.

Die Stärke in Matthias Nawrats Erzählen besteht in der präzisen, beinahe unerbittlichen Beobachtung von Alltagsdetails, etwa der hochbürokratischen Abläufe im Krankenhaus, denen die Patienten mit einer fatalistischen Ergebenheit gegenübertreten. Auch die Differenzen zwischen Mutter und Sohn hält er genau fest: Sie, die ursprünglich zur Lehrerin ausgebildet wurde, hat sich nach der Übersiedelung nach Deutschland zur Physiotherapeutin weitergebildet und betont, wie wichtig es ist, Geld zurückzulegen und genug für die Rente zu sparen. Er, der Sohn, will die Ratschläge der Mutter nicht hören und ist auch sonst oft von einer brodelnden Wut erfasst, die er nur schwer in Zaum halten kann. Dann wieder ist er erschlagen von den Eindrücken und ertappt sich angesichts der Wolkenkratzer („Westwärts, dachte ich, westwärts!“) bei plötzlichen Gefühlsausbrüchen.

Amerikanischer Traum oder die USA als Sehnsuchtsort spielen aber insgesamt keine so große Rolle in diesem Roman – und wenn doch, dann eher on ihrer kaputten und desolaten Version. Interessant ist da auch der Zusammenhang, den die Mutter gleich zu Beginn zwischen der Wohngegend der beiden in New York und den Urlaubserfahrungen in ihrer Jugend herstellt: 

Meine Mutter hatte in ihrer Jugend, dachte ich nun, durch diese periphere Gegend in Brooklyn gehend, Reisen nach Rumänien unternommen, ans Schwarze Meer, in der Hoffnung auf einen Hauch von Luxus und Wohlstand an jenem exotischen Ende der ihr damals zugänglichen Welt. Der Dreck, die zerfallenden Gebäude, die nur einen Schritt hinter der touristischen Hauptstraße beginnenden deprimierenden Wohnviertel von Konstanza waren alles andere als schön gewesen. Sie waren arm und heruntergekommen gewesen, vom narzisstischen Wahn Ceauşescus ausgelaugte, ungepflegte, kaputte und nie reparierte Siedlungen, deren mittellose Bewohner von den Einkünften aus dem Tourismus nichts abbekamen, weil immer jemand aus der Verwaltung schneller war, schon seine Tasche aufgemacht, sich das Seine genommen hatte. Und nun hatte ich meine Mutter hierhergeschleppt, in dieses Viertel von Brooklyn. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken. Lag für eine ewig andauernde Sekunde so da und bewegte sich nicht. Dann hob sie die Hände zum Gesicht und sagte: Au.

Matthias Nawrat: Reise nach Maine, Rowohlt Verlag, 224 Seiten, 22 €