Monde vor der Landung ­­­­– Das Lesetagebuch (Teil 1)

Erzählungen, Theater, Sachbuch: Eine ganze Menge hat Clemens J. Setz in den letzten Jahren veröffentlicht ­­­­– aber keinen neuen Roman. Jetzt, acht Jahre nach Die Stunde zwischen Frau und Gitarre und zwei Jahre nach dem Georg-Büchner-Preis ist es soweit, Monde vor der Landung ist erschienen und hat erwartungsgemäß in den Feuilletons reüssiert.

Aber was hat es genau auf sich mit der Geschichte um den Weltkriegs-Veteranen und Hohlwelt-Theoretiker Peter Bender aus Worms? Dem soll ein Lesetagebuch ab heute auf den Grund gehen. Geplant sind drei Teile, die die 528 Seiten des Romans in handliche Einheiten aufteilen und ein close reading der Handlung darstellen, Querver- sowie Binnenverweise dokumentieren und Lieblingszitate sammeln.

Teil 1 (S. 7-176): Alzey to Anywhere

Von den sechs (!) Motti, die dem Buch insgesamt und dem ersten Teil vorangestellt sind, vielleicht das das schönste: „Er ist klug wie ein Rad“ (Elias Canetti). Aus den Aufzeichnungen Die Fliegenpein stammt es, die dieser Solitär der Literaturgeschichte 1992 im Carl Hanser Verlag veröffentlichte, und weist voraus auf den sehr eigenwilligen Denker Peter Bender, den wir im vorliegenden Roman näher kennen lernen.

Wir steigen direkt voll ein ins Geschehen: Es ist das Jahr 1920, und die Stadt Worms ist in ein karnevaleskes Treiben gehüllt. Peter Bender bahnt sich den Weg durch Marktstände, ein Mini-Zeppelin schwebt durchs Bild, ein Vogel Strauß zieht einen Leiterwagen mit Reklame für das örtliche Lichtspielhaus über den Markt. All das ergibt schon einmal ein schönes Stimmungsbild, das einer gewissen Anarchie nicht entbehrt und mit dem für Clemens J. Setz typischen, schillernden Beschreibungsfuror charakterisiert wird: Laub ist auf der Straße „knusprig gebraten“, ein Mann sieht aus, als würde er „fast nur aus Stirn bestehen“. Aber auch das Bendersche Weltbild deutet sich schon schemenhaft an: Der Vogel Strauß ist natürlich aus einem Ei, also einem kleinen Mond geschlüpft, der innerhalb der Erdschale niedergegangen ist – wie kann es anders sein!

Benders Ziel ist der Gasthof Zur Trompete, in dem sich ein ähnlich pittoreskes Treiben abspielt, denn er will beim Wirt einen Saal für einen Vortrag anmelden („Unter anderem wird es um den Erdballglobus gehen“). Mit Blick auf die zeitlichen Umstände – Worms ist Teil der von den Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg besetzten Rheinlandes, und die Rheinlandkommission hat einen strengen Blick auf politische Zusammenkünfte – gestaltet es sich etwas kompliziert, den Wirt von der nicht politischen Ausrichtung des Vortrags zu überzeugen. Darüber hinaus macht der durchaus auch etwas aufgeregte Bender einen weiteren Wirtshausbesucher auf sich aufmerksam, der ihm auf dem Heimweg folgt und versucht, für seine Belange („Das Rheinland den Rheinländern“) zu gewinnen.

Im Gespräch mit dem Wirt werden weitere Grundzüge von Benders Weltsicht deutlich: Wir machen Bekanntschaft mit den Vordenkern der Hohlwelt-Theorie John Cleves Symmes jr. und Dr. Cyrus Teed, die die konzentrischen Innenkugeln der Erde und vielmehr das ganze Universum als Hohlglobus postuliert haben (zumindest bei Dr. Teed hat ein relativ starker Stromschlag die Denkrichtung vorgegeben).

Im folgenden springt Setz zur Kindheit Peter Benders, der 1893 im schönen Kreis Alzey-Worms geboren wurde und, wie es scheint, ein recht aufgeweckter Junge war. Eine wichtige Kindheitsepisode ist der von einem Pferde-Omnibus (!) überrollte Großvater, der seitdem ein Holzbein trägt; erste Lektüren sind James Fenimore Cooper und Robinson Crusoe, dann die Nibelungensage, die einen sehr starken Eindruck hinterlässt.

Sprung zurück in die Erzählgegenwart: Offenbar steht Peter Bender 1920 schon mit dem Gesetz auf Kriegsfuß, der Briefträger bringt eine Strafanzeige wegen „Gotteslästerung und umtriebiger Geisteshaltung“. Aber auch mit der Ehe zu seiner Frau Charlotte nimmt er es nicht so genau: Ein „Spaziergang“ führt Bender zu seiner Geliebten Else, die ihren geistig verwirrten Bruder pflegt.

Zeitsprung zurück: Es ist das Jahr 1914, Bender meldet sich zum Kriegsdienst. Nach einer kurzen Zwischenepisode zurück im Jahr 1920 (Gerichtsverhandlung, Vortrag im Wirtshaus) folgen wir dem jungen Artilleristen nach Ostpreußen. Eins der bislang gelungensten Kapitel: Durch zahlreiche Absurditäten, Ellipsen und erlebte Rede liefert Setz eine überzeugende Schilderung des chaotischen Kriegsalltags. Die Landschaft ist menschenfeindlich kalt und nass, es herrschen fremdartige Rituale wie das Betasten der kalten Stirn von zurückgekehrten Jagdfliegern, und bald sitzt Bender selbst im Flugzeug, nur um kurz darauf bruchzulanden und durch die Fremde zu irren: „Aber es gab ja noch Gras, es gab sogar Weg, einen Rest der Chaussee, und zwei Tannen. Die Tannen hießen Bim und Bom. Sie hatten ganz tropfige Äste.“ Gut möglich, dass dies einer der zentralen Auslöser für die Weltverlorenheit, die völlig eigentümliche Sicht auf die Dinge ist, die Bender, den wir ja schon ein paar Jahre später kennen gelernt haben, pflegt. Der Ort des Kriegstraumas ist aber auch gleichzeitig Ort des ersten Glücks: Im Lazarett in Posen lernt Bender seine zukünftige Frau Charlotte kennen, mit der er in Worms seine Familie gründen wird. In der Gegenwartsebene geht es nicht so glücklich weiter: Nach der Verhandlung erhält er seinen Schuldspruch und kommt für sechs Wochen ins Gefängnis.

Was nehmen wir mit aus dem ersten Drittel über Peter Bender und sein Leben? Er hält Vorträge im Namen seiner „Menschheitsgemeinde“, ist also auf dem Pfad der Missionierung, lebt aber nicht konsequent das, was er so liberal predigt: Seine Beziehung zu Else hält er vor seiner Frau geheim. Er neigt zum Jähzorn; sein Denken ist im Mindesten originell zu nennen, was Kostproben zur Geschlechtertheorie mit Nibelungen-Einsprengseln zeigen, die Setz großzügig zitiert. Richtig kohärent wird allerdings die Hohlwelt-Theorie noch nicht, von der wir nur in Bruchstücken etwas erfahren: Da ist mal von konkaven Universen die Rede, dann von zahlreichen konzentrischen Innenkugeln, die teilweise aber auch schon wieder zerbrochen sind. Die Sonne dagegen hat etwa Apfelgröße und schwebt in der Mitte „unserer“ Kugel, wie Bender es schafft, einen Zellengenossen zu überzeugen. Davon hoffentlich bald mehr!

Lieblingszitate:

„Libellen, winzig kleine, ferngelenkte Kettensägen“ (S. 37f)

„Alle Menschen gehen mit aufrechten Oberkörpern umher, durch Hohlwege voll schwarzem Holunder.“ (S. 39)

„Jawohl, jetzt ordentlich was hineinerzählen in das rauschende Gerät, wie in eine Wiesenblume!“ (S. 99)

„Verlorene Würfel, das sind die Milchzähne der Natur.“ (S. 146)

Musiktipp:

Eine Hymne an Dr. Cyrus („Koresh“) Teed, die der Schweizer Liedermacher Guz 200 auf seinem Album We Do Wie Du veröffentlicht hat:

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung, Suhrkamp Verlag, 528 Seiten, 26 €

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..