Monde vor der Landung – Das Lesetagebuch (Teil 3)

Teil 3 (S. 353-520): From Florida with Love

Dass die Welt, wie wir sie durch die Augen Peter Benders sehen, sich nicht in einen konventionellen Erzählungsverlauf fügt, sollte wohl mittlerweile klar sein. Die Episoden aus seinem Leben, seine Gedanken und Theorien sind nur lose in den Verlauf der Geschichte eingebettet, die sich unaufhaltsam in Richtung einer Katastrophe entwickelt – um so viel schon vorwegzunehmen. Das letzte Drittel des Romans beginnt mit einer Überstellung Benders aus der Haft in eine Nervenklinik, wo er es schafft, die Gunst eines jungen Arztes zu erlangen, der ihm empfangsbereit für seine ungewöhnlichen Denkwege scheint. Charlotte richtet einen Brief an den Leiter der Klinik, in dem sie leidenschaftlich für ihren Mann argumentiert – tatsächlich scheint sie Erfolg zu haben: Bender wird entlassen und kehrt nach Hause zurück. Die wirtschaftlichen Probleme halten jedoch an, verschärfen sich sogar: Die Bender sehen sich gezwungen, nach Frankfurt zu ziehen, Bender ist enttäuscht über den ausbleibenden Erfolg seiner Arbeit, sein Buch ist nicht mehr erhältlich, seit der Verlag in Konkurs gegangen ist, auch ein Wiedersehen mit Johannes Lang, der inzwischen einen Schüler hat, der ihn verehrt, bringt ihn nicht weiter. Einzig die Korrespondenz mit Harry Manley von der Koresh-Gemeinde in Florida sorgt für Lichtblicke. Schweren Herzens geht Bender also wieder auf Stellensuche und wird bei einem Institut für junge Frauen fündig, dessen Leiterin Hedwig Michels sowohl von den Referenzen Benders als auch von seiner Persönlichkeit beeindruckt ist: Sie ist empfänglich für seine Ideen, auch erotisch beginnt es zwischen den beiden bald zu knistern. Währenddessen wird für Charlotte das Leben immer härter: Selbst Frisörbesuche sind für Juden nun nicht mehr erlaubt, weswegen sie dafür zu einer Nachbarin geht. Jedes Geräusch von der Straße, jede nebenbei gemacht Bemerkung bergen Gefahren. Eine Ausreise bleibt der einzige Ausweg, und während Bender sich immer mehr in die Idee verstrickt, er sei letztlich die Reinkarnation von Koresh Teed, eilt Charlotte von Reisebüro zu Reisebüro. Letztlich ist es aber Hedwig, der die Flucht aus Europa gelingt, bei der ihr Bender sogar behilflich ist. Sie steuert die Koresh-Gemeinde in Florida an, von der sich Bender bald alleine gelassen fühlt. Bombenalarme halten Frankfurt in Atem, immer wieder müssen die Bewohner in die Luftschutzkeller flüchten. Zuletzt ist es aber die Denunziation durch einen Sprachschüler, die das Schicksal Peter Benders besiegelt: Er wird verhaftet und wenig später im KZ Mauthausen ermordet. Seiner Frau Charlotte gelingt es noch eine Weile, sich zu verstecken, aber auch sie erlebt das Ende des Kriegs nicht mehr, sondern stirbt im KZ Auschwitz. Ein furchtbares Ende – das Setz wohl ein klein wenig abmildern will, wenn er im letzten Absatz eine Art Epilog anhängt, in dem der Journalist und Volkskundler Carl Carmer nach Kriegsende in Florida auf eine gewisse Hedwig Michel stößt, die sich um die letzten, steinalten Mitglieder der Koresh-Gemeinde kümmert. Die Flucht in Europa und die Nachricht vom Tod Peter Benders lassen sie nicht verzagen: Die Menschheit wird die wahre Lehre noch erfahren. In der Zukunft werden wir alle in der Hohlwelt leben.

Lieblingszitate:

„Seine Schritte klangen erstaunlich laut im frischen Schnee, kchrm kchrm kchrm, das Schlaraffenlandgeräusch mampfender Mäuler.“ (S. 373)

„Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung.“ (S. 423)

„In den Nächten besuchte ihn nun oft ein Propeller.“ (S. 442)

„Ein jedes Haus sieht aus, als summte es Beethoven.“ (S. 503)

Monde vor der Landung – Das Lesetagebuch (Teil 2)

Teil 2 (S. 177-352): We Are Scientists

„Ich erkannte nichts wieder“: Der erste Satz aus Rainald Goetz‘ Irre passt auch auf den Zustand von Peter Bender nach seiner Haftentlassung. Die Kinder sind auf unheimliche Weise größer geworden (obwohl es ja nur sechs Wochen waren!), Else, die Geliebte, nicht auffindbar. Auch die Wirtschaftslage ändert sich rasant: Die Inflation rast, alles muss schnell zu Geld gemacht werden, das seinen Wert im Stundentakt verliert. Seine wissenschaftliche Mission indes hat Bender nicht aus den Augen verloren: Der große „Menschheitskongress“ zur Verkündung des neuen Weltbilds ist sein großes Projekt, für das er auch seinen Mentoren Johannes Lang gewinnen will. Darüber hinaus schwebt ihm ein Buchprojekt vor, das natürlich ein großer Erfolg werden soll. Zur Sicherheit unterstützt Charlotte die Familie durch Verkaufsvermittlungen von Haushaltsgegenständen und unterrichtet Sprachschüler, was für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität des Haushalts sorgen. Politisch wird es turbulent, die Separatisten, die das Ende der Besatzung des Rheinlandes fordern, versuchen mit Gewalt die Macht an sich zu reißen. Bender, der mehr aus Versehen eine Rede vor ihnen gehalten hat, fühlt sich solidarisch. Allerdings ist es nicht so ganz einfach mit der Intention der Aufständischen: Soll sich der Rheinstaat Frankreich anschließen? Mehrmals ist auch von München die Rede, wo wohl ein Putsch im Gange sei – eine erste unheilvolle Aufwallung der nationalsozialistischen Bewegung – es ist das Jahr 1923. Bender lässt sich aber nicht von seinen Projekten abbringen: Gemeinsam mit Johannes Lang besucht er einen weiteren Vordenker der hohlen Welten, Karl Neupert. Die Begegnung verläuft allerdings ernüchternd, da Lang und Neupert sich in Nebensächlichkeiten verlieren. Als Geschenk erhält Bender einen kleinen Hohlglobus, den er sich stolz auf den Schreibtisch stellt – und so endet der erste Teil des Romans.

Ein kleiner Zeitsprung: Inzwischen ist Peter Benders Roman Karl Tormann erschienen, ansonsten scheint aber erst einmal alles wie immer: Die Kinder spielen, Bender sitzt mit originellen Gedanken im Garten. Dann ist auf einmal das Jahr 1933: Bender spricht auf einem Astrologenkongress in Stuttgart und erhält ungewohnt viel Zuspruch. Die Wissenschaft, ganz dem neuen Geist der Zeit verpflichtet, zeigt sich den unkonventionellen Sichtweisen gegenüber offen: Hohlwelt, aber auch weitere Theorien wie die Welteislehre scheinen plötzlich ungewöhnlich plausibel. Zuhause wird die Stimmung ungleich düsterer: Viele von Charlottes Nachhilfeschülern sind nun in der Hitlerjugend, Charlotte fühlt sich als Jüdin immer unwohler, auch erste Schikanierungen und nur scheinbar harmlose Streiche häufen sich in der Nachbarschaft; Bender wiegelt ab. Er ist schon beim nächsten Projekt: Er erhält eine Einladung zu einem Raketenstart, der den Beginn der bemannten Raumfahrt bedeuten soll; außerdem hat er eine Korrespondenz mit den ehemaligen Jüngern von Cyrus Teed, den Koreshianern, aufgenommen. Bald zieht sich aber die Schlinge auch um ihn zu: Er wird von der SA („wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und Mitarbeit in einer verbrecherischen Organisation“) festgenommen und landet im Gefängnis – bereits zum zweiten Mal.

Die manische Geschäftigkeit Benders, der fast ständig an neuen Theorien arbeitet (unerwähnt geblieben ist hier z.B. seine Idee einer Gewerkschaft der Mütter und die faszinierende Interpretation der Inflation als „das alternde Geld“) prägen das zweite Drittel von Setz‘ Roman. Einige historische Fakten wie die drohende Sezession des Rheinlands unter französischer Protektion lohnen sich auf den einschlägigen Wikipediaseiten nachzulesen, hier taucht Setz in wenig beleuchtetes historisches Territorium ein. Andere zeitliche Marker wie etwa die Machtergreifung Hitlers 1933 werden dagegen gar nicht erwähnt – die schleichende Bedrohungslage wird hier eher subkutan deutlich gemacht. Bruckstückhaft bleibt doch wieder frustrierend vieles: Warum wird Bender jetzt genau ein zweites Mal verhaftet? Immerhin gibt ein Gespräch mit seinem Nachhilfeschüler Hasso Keller nun ohne Umschweife Einblicke in das Bild des Hohlwelt-Universums („Wir sind innen. Der Erdboden geht weiter, und dann nach oben, er umspannt uns“) und der Theorie der Innenkugeln („Und in der Mitte der Kugel lebt noch eine andere Kugel, auf der alle Gestirne sind“). Gekonnt baut Setz auch Leitmotive wie den einzelnen Fußabdruck aus Robinson Crusoe in die Handlung ein: Dieser begegnet Bender in unterschiedlicher Form immer wieder und strahlt dabei fast etwas Tröstendes aus.

Lieblingszitate:

„Nicht einmal still gegen die Verhältnisse andenken kann ich.“ (S. 212)

„Ein Mann, der dre Gießkannen in einer Hand halten kann, während er mit der freien Hand herzlich den Gruß erwidert: Das war Karl Neupert.“ (S. 234)

„Ach, es war traurig, niemand sonst hatte so schöne Gedanken wie er. Und sie konnten nirgends hin.“ (S. 250)

„Vögel kennen das Geheimnis, aber nicht wir Piloten.“ (S. 325)

Monde vor der Landung ­­­­– Das Lesetagebuch (Teil 1)

Erzählungen, Theater, Sachbuch: Eine ganze Menge hat Clemens J. Setz in den letzten Jahren veröffentlicht ­­­­– aber keinen neuen Roman. Jetzt, acht Jahre nach Die Stunde zwischen Frau und Gitarre und zwei Jahre nach dem Georg-Büchner-Preis ist es soweit, Monde vor der Landung ist erschienen und hat erwartungsgemäß in den Feuilletons reüssiert.

Aber was hat es genau auf sich mit der Geschichte um den Weltkriegs-Veteranen und Hohlwelt-Theoretiker Peter Bender aus Worms? Dem soll ein Lesetagebuch ab heute auf den Grund gehen. Geplant sind drei Teile, die die 528 Seiten des Romans in handliche Einheiten aufteilen und ein close reading der Handlung darstellen, Querver- sowie Binnenverweise dokumentieren und Lieblingszitate sammeln.

Teil 1 (S. 7-176): Alzey to Anywhere

Von den sechs (!) Motti, die dem Buch insgesamt und dem ersten Teil vorangestellt sind, vielleicht das das schönste: „Er ist klug wie ein Rad“ (Elias Canetti). Aus den Aufzeichnungen Die Fliegenpein stammt es, die dieser Solitär der Literaturgeschichte 1992 im Carl Hanser Verlag veröffentlichte, und weist voraus auf den sehr eigenwilligen Denker Peter Bender, den wir im vorliegenden Roman näher kennen lernen.

Wir steigen direkt voll ein ins Geschehen: Es ist das Jahr 1920, und die Stadt Worms ist in ein karnevaleskes Treiben gehüllt. Peter Bender bahnt sich den Weg durch Marktstände, ein Mini-Zeppelin schwebt durchs Bild, ein Vogel Strauß zieht einen Leiterwagen mit Reklame für das örtliche Lichtspielhaus über den Markt. All das ergibt schon einmal ein schönes Stimmungsbild, das einer gewissen Anarchie nicht entbehrt und mit dem für Clemens J. Setz typischen, schillernden Beschreibungsfuror charakterisiert wird: Laub ist auf der Straße „knusprig gebraten“, ein Mann sieht aus, als würde er „fast nur aus Stirn bestehen“. Aber auch das Bendersche Weltbild deutet sich schon schemenhaft an: Der Vogel Strauß ist natürlich aus einem Ei, also einem kleinen Mond geschlüpft, der innerhalb der Erdschale niedergegangen ist – wie kann es anders sein!

Benders Ziel ist der Gasthof Zur Trompete, in dem sich ein ähnlich pittoreskes Treiben abspielt, denn er will beim Wirt einen Saal für einen Vortrag anmelden („Unter anderem wird es um den Erdballglobus gehen“). Mit Blick auf die zeitlichen Umstände – Worms ist Teil der von den Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg besetzten Rheinlandes, und die Rheinlandkommission hat einen strengen Blick auf politische Zusammenkünfte – gestaltet es sich etwas kompliziert, den Wirt von der nicht politischen Ausrichtung des Vortrags zu überzeugen. Darüber hinaus macht der durchaus auch etwas aufgeregte Bender einen weiteren Wirtshausbesucher auf sich aufmerksam, der ihm auf dem Heimweg folgt und versucht, für seine Belange („Das Rheinland den Rheinländern“) zu gewinnen.

Im Gespräch mit dem Wirt werden weitere Grundzüge von Benders Weltsicht deutlich: Wir machen Bekanntschaft mit den Vordenkern der Hohlwelt-Theorie John Cleves Symmes jr. und Dr. Cyrus Teed, die die konzentrischen Innenkugeln der Erde und vielmehr das ganze Universum als Hohlglobus postuliert haben (zumindest bei Dr. Teed hat ein relativ starker Stromschlag die Denkrichtung vorgegeben).

Im folgenden springt Setz zur Kindheit Peter Benders, der 1893 im schönen Kreis Alzey-Worms geboren wurde und, wie es scheint, ein recht aufgeweckter Junge war. Eine wichtige Kindheitsepisode ist der von einem Pferde-Omnibus (!) überrollte Großvater, der seitdem ein Holzbein trägt; erste Lektüren sind James Fenimore Cooper und Robinson Crusoe, dann die Nibelungensage, die einen sehr starken Eindruck hinterlässt.

Sprung zurück in die Erzählgegenwart: Offenbar steht Peter Bender 1920 schon mit dem Gesetz auf Kriegsfuß, der Briefträger bringt eine Strafanzeige wegen „Gotteslästerung und umtriebiger Geisteshaltung“. Aber auch mit der Ehe zu seiner Frau Charlotte nimmt er es nicht so genau: Ein „Spaziergang“ führt Bender zu seiner Geliebten Else, die ihren geistig verwirrten Bruder pflegt.

Zeitsprung zurück: Es ist das Jahr 1914, Bender meldet sich zum Kriegsdienst. Nach einer kurzen Zwischenepisode zurück im Jahr 1920 (Gerichtsverhandlung, Vortrag im Wirtshaus) folgen wir dem jungen Artilleristen nach Ostpreußen. Eins der bislang gelungensten Kapitel: Durch zahlreiche Absurditäten, Ellipsen und erlebte Rede liefert Setz eine überzeugende Schilderung des chaotischen Kriegsalltags. Die Landschaft ist menschenfeindlich kalt und nass, es herrschen fremdartige Rituale wie das Betasten der kalten Stirn von zurückgekehrten Jagdfliegern, und bald sitzt Bender selbst im Flugzeug, nur um kurz darauf bruchzulanden und durch die Fremde zu irren: „Aber es gab ja noch Gras, es gab sogar Weg, einen Rest der Chaussee, und zwei Tannen. Die Tannen hießen Bim und Bom. Sie hatten ganz tropfige Äste.“ Gut möglich, dass dies einer der zentralen Auslöser für die Weltverlorenheit, die völlig eigentümliche Sicht auf die Dinge ist, die Bender, den wir ja schon ein paar Jahre später kennen gelernt haben, pflegt. Der Ort des Kriegstraumas ist aber auch gleichzeitig Ort des ersten Glücks: Im Lazarett in Posen lernt Bender seine zukünftige Frau Charlotte kennen, mit der er in Worms seine Familie gründen wird. In der Gegenwartsebene geht es nicht so glücklich weiter: Nach der Verhandlung erhält er seinen Schuldspruch und kommt für sechs Wochen ins Gefängnis.

Was nehmen wir mit aus dem ersten Drittel über Peter Bender und sein Leben? Er hält Vorträge im Namen seiner „Menschheitsgemeinde“, ist also auf dem Pfad der Missionierung, lebt aber nicht konsequent das, was er so liberal predigt: Seine Beziehung zu Else hält er vor seiner Frau geheim. Er neigt zum Jähzorn; sein Denken ist im Mindesten originell zu nennen, was Kostproben zur Geschlechtertheorie mit Nibelungen-Einsprengseln zeigen, die Setz großzügig zitiert. Richtig kohärent wird allerdings die Hohlwelt-Theorie noch nicht, von der wir nur in Bruchstücken etwas erfahren: Da ist mal von konkaven Universen die Rede, dann von zahlreichen konzentrischen Innenkugeln, die teilweise aber auch schon wieder zerbrochen sind. Die Sonne dagegen hat etwa Apfelgröße und schwebt in der Mitte „unserer“ Kugel, wie Bender es schafft, einen Zellengenossen zu überzeugen. Davon hoffentlich bald mehr!

Lieblingszitate:

„Libellen, winzig kleine, ferngelenkte Kettensägen“ (S. 37f)

„Alle Menschen gehen mit aufrechten Oberkörpern umher, durch Hohlwege voll schwarzem Holunder.“ (S. 39)

„Jawohl, jetzt ordentlich was hineinerzählen in das rauschende Gerät, wie in eine Wiesenblume!“ (S. 99)

„Verlorene Würfel, das sind die Milchzähne der Natur.“ (S. 146)

Musiktipp:

Eine Hymne an Dr. Cyrus („Koresh“) Teed, die der Schweizer Liedermacher Guz 200 auf seinem Album We Do Wie Du veröffentlicht hat:

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung, Suhrkamp Verlag, 528 Seiten, 26 €

Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt

Ann Cotten hat mal wieder das Fach gewechselt: Mit Lyophilia erscheint im Suhrkamp Verlag der zweite Band mit Erzählungen der anarchischsten der deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen.

Damit nicht genug, verzweigt sich das ohnehin schon auf eine beachtliche Größe angewachsene Werk Ann Cottens nun auch noch ein weiteres Mal. Im Wiener Sonderzahl Verlag sind zuletzt unter dem Titel Was geht? ihre Salzburger Poetikvorlesungen erschienen (The Daily Frown berichtete); davor das japanische Reisebuch Jikiketsugaki Tsurezuregusa bei Peter Engstler und Fast Dumm, amerikanische Reflexionen bei Starfruit Publications, englischsprachige Gedichte in der Broken Dimanche Press – Lather in Heaven – und natürlich das irre Versepos Verbannt!, das zuletzt im Hausverlag Suhrkamp verlegt wurde.

In Lyophilia nun geht es in das weitläufige Gebiet der Science-Fiction. Und herausgekommen ist dabei eine knallbunte Wundertüte: Von japanisch inspirierter Kürzestprosa bis zur hundertseitigen Novelle ist alles dabei. Es geht um außerirdische Sprachen, die buchstäblichen Untiefen von Wikileaks („Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt“), vermeintliche und wirkliche Geistererscheinungen am Kahlenberg in Wien („Nepomuk“), prekäre Arbeitswelten der Zukunft („Putztruppenweiseheiten“) und eine entlang des klassischen H.G.-Wells-Romans erzählte psychedelische Zeitreise im Prenzlauer Berg. Die Kernstücke bilden zwei jeweils weit über hundert Seiten lange Erzählungen, deren kleinster gemeinsamer Nenner möglicherweise die Liebe ist: „Proteus oder Die Häuser denen, die drin wohnen“ über eine Affäre, die sich über mehrere Paralleluniversen erstreckt und „Anekdoten vom Planeten Amore (Kafun)“, in der auch die titelgebende Lyophilisation zur Sprache kommt:

Wir patentierten einen Lyophilisator des Geistes, ein Konkurrenzprodukt zum Coder Kant der Uni Osaka, das unter dem Namen Hegelator zugleich als Treiber hinter einem der beliebtesten Rides im Philosophenpark wertvolle Konversationserfahrungen machte, Industriespionage nicht ausgeschlossen. Die Künstlichen fanden an den Denkweisen ihrer Menschen nostalgischen Geschmack, auch wenn sie es lästig und auch eklig fanden, dieses Denken andauernd in Feuchtform um sich zu haben. Vieles, was Psychologie, Philosophie und Literatur formuliert hatten, stellte sich auch nach der Erforschung der Muster als verblüffend treffend heraus, wie ja auch die Entdeckung des Periodensystems der Elemente das Kochen und sein Vokabular nicht wesentlich veränderte.

Alles klar? Was sich schon im schaudernden Fächer zeigte, wird hier bestätigt: Ann Cotten ist auch als Erzählerin nicht zu stoppen. Grandios verplaudert, mitunter auch nervtötend in ihrer Ausführlichkeit, sprudeln ihre Geschichten munter über die 463 Seiten, die Lyophilia umfasst. Dabei ist es nicht einmal klar, ob Lyophilia wirklich als Science-Fiction-Band verstanden werden kann: Wirken Erzählungen wie „Nepomuk“ und das kurze Dialekt-Stück „Tullner Creeks“, die durchaus Tagebuch-Charakter haben, nicht nah an der Realität? Nicht immer jedenfalls ist die Grenze zum Spekulativen klar zu ziehen.

Vielleicht hat sich die durchaus dem Blödeln nicht abgeneigte Autorin hier aufs Neue selbst übertroffen. Festgehalten werden kann zumindest das: Langweilig wird es uns mit Ann Cotten noch lange nicht werden.

Ann Cotten: Lyophilia. Erzählungen, Suhrkamp Verlag, 463 Seiten, 24 €

Welcome to Miami

Nach Lärm und Wälder legt Juan S. Guse seinen zweiten Roman vor – in Neonfarben leuchtend und dick wie ein Ziegelstein kommt Miami Punk daher.

Wie in der von Paranoia geprägten Prepper-Welt des Vorgängers macht sich Guse auch hier daran, eine ganze Welt zu erfinden, die der unseren auf eine unheimliche Art ähnlich sieht. Zugrunde liegt ein entscheidendes Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn sich der Atlantik vom einen Tag auf den anderen von der Ostküste der Vereinigten Staaten zurückzieht?

In Miami, einer Stadt, die mit ihrem berühmten Sandstrand wie keine andere das Freizeit-Paradies im Hochglanzformat verkörpert, passiert genau das. Erzählerisch wird dieses Phänomen nun über mehrere Stränge erforscht: Über eine junge Programmiererin, die an ihrem opus magnum, einem Rollenspiel, das sich selbst fortschreibt, arbeitet; über Teilnehmer eines geheimnisvollen Kongresses, der dauerhaft in einer futuristischen Hochhaussiedlung tagt; über die Arbeit der „Behörde 55“, die von der Stadt beauftragt wurde, die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen des Meeresschwunds zu erforschen (und nebenbei dem misstrauisch beäugten Kongress auf den Zahn zu fühlen); und schließlich über eine Gruppe von Counter-Strike-Spielern, die zum letzten Turnier der legendären Version 1.6 des First-Person-Shooters nach Miami reist. Mit der Zeit kommen sich die einzelnen Handlungsträger näher, und eine dunkle, bedrohliche Atmosphäre legt sich über das Geschehehn; dazwischen darf man sich auf die Bekanntschaft mit Ringer-Verbänden, Todesschwadronen, Verschwörungstheoretikern aller Art und Pilgern, die das Meer suchen, freuen; es gibt einen Katalog herabfallender Dinge, die aus dem Hochhauskomplex geworfen werden, Planspiele ganzer Wirtschaftssektoren, die ihre Arbeit verloren haben, aber trotzdem ihren Tagesablauf aufrechterhalten, und die Lebensgeschichten ehemaliger professioneller Dauerwerbesendungs-Schauspieler nachzulesen.

Juan S. Guse erweist Science-Fiction-Klassikern wie J.G. Ballard oder Stanislaw Lem ebenso die Referenz wie professionellen Spieleentwicklern und der kulturellen Bedeutung, die Computerspiele bereits heute haben. Trotz des hohen erzählerischen Anspruchs lässt sich das mit 634 Seiten keineswegs leichtgewichtige Buch erstaunlich zügig lesen: Durch einen geschickten Umgang mit der Informationsvergabe wird erzählerisch in jedem Kapitel gerade immer genug offen gelassen, dass man man mit Spannung darauf, was als nächstes passiert, sofort weiterliest. Für Nerds gibt es außerdem noch jede Menge Anspielungen auf Vorbilder von David Foster Wallace über Kathy Acker bis hin zu Claude Lévi-Strauss zu entschlüsseln; ein geheimes Bonuslevel, das sich über im Text verstreute Internet-Adresse und erwähnte WLAN-Zugänge freischalten lässt, existiert natürlich ebenfalls. Stefan Härtel von Bookster HRO prognostiziert bereits „Kultstatus“; Marten Hahn meint auf Deutschlandradio Kultur: „Es dauert lange, bis man weiß, ob Miami Punk großer Mist oder großes Kino ist“, schließt dann aber mit dem Fazit: „Ein Werk mit magischer Qualität.“ Zauberhaft ist tatsächlich auch die Titelillustration der Cyberpunk-Künstlerin Alice Conisbee, die an dieser Stelle, wie auch die herstellerische Gesamtverarbeitung, noch einmal eine besondere Erwähnung verdient – und Miami Punk zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk macht.

Juan S. Guse: Miami Punk, S. Fischer, 640 Seiten, 26 €

Buchpremiere am 7. März 2019 um 19:30 Uhr im Berliner Ringtheater

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (4/4)

Die nun folgenden Kapitel verweisen noch einmal deutlich auf die dem Roman zugrundeliegende Funktion, nämlich dass er selbst Produkt einer gigantischen Rechenoperation ist: Ein Witzearchiv, eine Sammlung verworfener Motti, ein Abkürzungsschlüssel sowie ein Personenverzeichnis markieren den Übergang zum letzten Viertel von Dunkle Zahlen. Dann wird es wagemutig: In noch einer weiteren Handlungsebene, die im Paris des Jahres 1987 spielt, wird der belgische Geheimagent Dupont eingeführt, der zum Schein für die Softwarefirma IBM arbeitet. Leonid Ptuschkow dagegen, inzwischen schon ein alter Bekannter, begegnet uns wieder im Jahr 1974: Erneut ist er fasziniert von der poetisch durchdrungenen Idee, das universelle Computerprogramm, mit dem sich die Geschichte der Menschheit vorhersehen lässt, zu schreiben (Verweis auf den Dichter Teterewkin!). Auf der Programmierer-Spartakiade im Jahr 1985 wird zunächst zu Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko geschwenkt, die, wie nun klar wird, das Computerprogramm aus dem verschollenen Gepäck des kubanischen Jugendtrainers Eduardo Piñero an sich gebracht hat, dessen ausgefeilte Analysemethoden für die Arbeit der Staatssicherheit enorm hilfreich sind. Dupont, der belgische Geheimagent, ist inzwischen in Moskau angekommen, wo er geheime Bänder, getarnt als Kassetten mit russischer Volksmusik, sowie eine geheimnisvolle rote Kladde durch verschiedene Stationen (darunter eine Spielzeugfabrik) transportiert, bis er unversehens einen Schlag gegen die Schläfe erhält. Leonids Erzählstrang bewegt sich nun zielstrebig auf das Jahr 1985 zu: Wir treffen 1981 am Grab seiner Eltern wieder, er ist schon Trainer der russischen Programmiererauswahl und soll für Erfolge bei der ersten Spartakiade sorgen. Doch wie geht es eigentlich mit der abenteuerlichen Mission von Mireya Fuentes weiter? Nachdem sie sich (unter Drogeneinfluss?) auf der Party in der kubanischen Botschaft in ein Vogelwesen (!) verwandelt und einen Rundflug über Moskau unternommen hat, ist sie in das Badezimmer der Botschaft zurückgekehrt, wo sie in der Badewanne zwar wieder in ihre menschliche Form zurückfindet, gleich aber die nächste fantastische Reise antritt, die sie diesmal in die Kanalisation führt. In einer Säulenhalle trifft sie auf ein Kind und einen liebestollen Zwerg, wird dekontaminiert und angewiesen, Schutzkleidung anzulegen – Schnitt! Die Programmierer-Spartakiade dauert an, das sowjetische Team muss herbe Verluste einstecken, der Ausgang des Trainerwettkampfs ist wegen Mireyas Abwesenheit offen. Mehrere kurze Kapitel aus auf wildeste zusammengewürfelten Zeiten (1989, 1996, 2019-2021) greifen nun noch einmal die wichtigsten Motive des Romans auf und variieren diese in bester Zufallsgeneratoren-Manier, bevor es zum großen Finale kommt: In einer Art Graphic Novel ohne Bilder, also mit leeren grauen Rechtecken, wird Mireyas Geschichte ausschließlich über Fußnoten zu Ende erzählt. Sie befindet sich nach ihrer Dekontamination in einem weiß gekachelten Laborraum, wo ihr eine Apparatur mittels Linsen und Spiegeln wundersame Bilder zeigt. Der Schluss: Ein Zoom auf ihre geweitete Pupille, in der sich der Himmel spiegelt.

Im letzten Viertel will, so scheint es, Dunkle Zahlen noch einmal alles an Einfallsreichtum und fantastischen Ideen aufbieten, auch in formaler Hinsicht: Zwischen die Kapitel gestreut ist ein Programmcode und ein Kreuzworträtsel, auch das Schlusskapitel, das quasi nur aus Fußnoten besteht, ist eine gelungene Irritation der Lesegewohnheiten. Viele Fragen bleiben aber doch offen, auch scheint sich der Strom der verschiedenen Handlungsstränge doch etwas zu verheddern und um eine Auflösung verlegen. Wer eine linear erzählte Mystery-Story erwartet hat, wird diesen Roman ohnehin schnell beiseite gelegt haben, das ist klar. Doch auch dem von komplex und ambitioniert angelegten Romanen begeisterten Leser wird es zeitweise etwas zu haarsträubend und verschachtelt. Hier liegen die Stärken vor allem in der ersten Hälfte des Romans, die durch liebevolle Figurenzeichnung und die originelle Setzung des gesamten Themas überzeugt. Gesamtfazit also: Ein abenteuerliches Leseerlebnis, das am Ende ein wenig zu viel Geduld verlangt!

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen, Matthes & Seitz Berlin, 488 Seiten, 24 €

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (3/4)

Aufgabe der Meschpoweff, für die Dmitri Sowakow inzwischen arbeitet, ist die Effektivitätssteigerung der gesellschaftlichen Produktionsprozesse mittels neuartiger Rechenapparate – was nicht überall auf Gegenliebe stößt. So ist man sich im Strömungsmaschinenkombinat Krschischanowski (ein herrlicher Zungenbrecher!) über den versprochenen Fortschritt durch Effektivität nicht so sicher und befürchtet eher Mehrkosten durch die Anschaffung der Computersysteme.

Schnitt ins Jahr 1999: Die Zwillinge Sjarhej und Palina Aljaksejewna Morschakin, Ex-Teilnehmer der Programmierer-Spartakiade, sind inzwischen Inhaber der Softwarefirma CSM. Ihr Hobby: Das Sammeln seltener Spielautomaten und historischer Rechner. Ein mysteriöser Schweizer hat ein ganz besonderes Objekt für sie: Eine echte GLM! Im Gegenzug verlangt er eine Hacker-Operation, „eine minimal-invasive Maßnahme, eine langfristige Geschäftsperspektive, sozusagen“…

Auf knapp zwei Seiten wird nun wieder eine Episode aus der Zeit des mysteriösen fiktiven Dichters Teterewkin eingeflochten – Alexander Puschkin und ein gewisser Leo Sorokin, verabreden sich zum Duell, das dann aber doch nicht stattfindet, dafür dichten sie gemeinsam ein Sonett unter dem Pseudonym Teterewkin – worauf es wieder zurück ins Jahr 1963 zu Dmitri Sowakow geht. Dieser hat sich, nachdem doch einige Pilotprojekte zur angestrebten Effektivitätssteigerung der volkseigenen Betriebe in Gang gebracht werden konnten, erst einmal eine Kur in den vielgerühmten Mineralwasserbädern des Kaukasus verdient. Dort trifft er unverhofft auf eine alte Bekannte: Jewhenija Swetljatschenko. Ebenso unverhofft macht sie sich auch wieder aus dem Staub, taucht aber schon bald ein zweites Mal wieder auf: Dmitri wurde mit einem neuen Auftrag bedacht, der ihn an einen unbekannten Ort führt (es geht durch Schächte, Minen und unterirdische Büros), wo Jewhenija ihn schon erwartet, was auch langsam etwas Licht in ihre Funktion bringt: Sie vertritt den Geheimdienst, der auf seine Arbeit aufmerksam geworden und seine Hilfe braucht, um an mathematisch erstklassig ausgebildete Mitarbeiter zu kommen.

Zeitsprung ins Jahr 1985: Ein Blick hinter die Kulissen der Programmierer-Spartakiade zeigt ein ausgefeiltes Überwachungssystem, das sämtliche Gespräche der Teilnehmer aus den Hotelzimmern mitschneidet; großes Ungemach bereitet dem Abhörspezialisten Kusmitsch dabei allerdings, dass die belauschten Gespräche größtenteils aus Belanglosigkeiten und groben Witzen bestehen. Mireya Fuentes unterdessen scheint in ihrer Mission weiterzukommen: Von ofiizieller Stelle in der kubanischen Botschaft erhält sie eine Vollmacht zur Abholung des Koffers von Trainer Eduardo, in dem die Bänder zur Teilnahme am inoffiziellen Trainerwettbewerb aufbewahrt sind. Leider hat sie, am Flughafen angekommen, wieder Pech: Das gesamte Gepäck ihrer Mannschaft sei auf Geheiß der Botschaft schon wieder auf dem Rückweg nach Kuba! Frustriert beschließt sie, um auf andere Gedanken zu kommen, den Abend auf einer Feier der Botschaft zu verbringen.

Nach einem etwas jähen und überraschend fantastischen Ende des Kapitels finden wir uns erstmals in diesem Roman auf einer Zeitebene in der Zukunft wieder: Im Jahr 2023 hört sich ein bereits vom hohen Alter gezeichneter Leonid Ptuschkow Tonbandaufnahmen an, die seine Verbindung mit Dmitri Sowakow und Jewhenija Swetljatschenko (die nun mit dem neuen Nachnamen Arsenjewna auftritt) erhellen. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Programmierer-Spartakiadenkomitees arbeitete Dmitri mit Jewhenija zusammen, die im Auftrag des Geheimdienstes die Aufgaben der teilnehmenden Kader so gestaltete, dass komplexe Missionen wie etwa die Kalkulation von Raketenabfangmanövern von diesen unbewusst gelöst wurden. Der Trick: Durch die Zerlegung in harmlose Teilaufgaben, deren Lösungen später miteinander kombiniert wurden, schöpfte keiner der Teilnehmer Verdacht. Eine weitere Mission, für die gestiegenen Rechnerkapazitäten eingesetzt wurden, war die „Witzeabwehr“: Hier gibt das folgende Kapitel weiteren Aufschluss, dass die bereits bekannte Rechenmaschine GLM im Einsatz zeigt. Durch eine Analyse von Lochkarten, die einer Rasterfahndung gleicht, soll es ihr gelingen, den Urheber eines bestimmten in der Bevölkerung kursierenden politischen Witzes zu bestimmen. Doch noch ist der Prozess nicht hundertprozentig ausgereift…

Fortsetzung folgt! Der vierte und letzte Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 8. März 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (2/4)

Weiter im Text: Heute geht es unter anderem in die DDR und nach Kuba, und ein Mathematiker wird zum Dichter.

Der Ausflug in die Biografie des fiktiven Dichter-Programmierers Gavriil Efimović Teterewkin im Kapitel „Nachwort“ wird gefolgt von einer kurzen Ergänzung („Paradigmenwechsel“), die von einem Zusammentreffen des „vermeintlichen Großneffens“ Teterewkins, Rodion Woronin, mit Lenin und Maxim Gorki auf der Ferieninsel Capri berichtet. Er kündigt an, das unvollendete Werk seines Großonkels, die Erfassung der Welt in einem gigantischen Poem durch automatisierte Schreibverfahren, zu einem glorreichen Abschluss zu bringen. Seinen Zuhörern ist es aber eher an einer Partie Schach gelegen – und außerdem sei Teterewkin doch ästhetisch vornehmlich ein Produkt der Herrschaftssysteme des 19. Jahrhunderts, die der Sozialismus zu überbieten suche.

Zurück ins Jahr 1985: Mireya Fuentes gelingt es nach einer wilden Taxifahrt tatsächlich, den Fahrer zu finden, der das kubanische Spartakiaden-Team in die Quarantänestation des Chowrinskaja-Krankenhauses im Leningrader Rajon gebracht hat. Das Krankenhaus stellt sich heraus als ein gespenstischer Ort: Zu großen Teilen noch Baustelle, aber von Arbeitern keine Spur. In einem etwas versteckt liegenden Flachbau trifft Mireya dann aber endlich ihr Team, allesamt wohlauf, von schwerer Krankheit keine Spur, doch auch behandelnde Ärzte sind für keine weitere Auskunft zu erreichen. Um die Chance zu nutzen, zumindest noch beim internen Trainerwettbewerb der Spartakiade einen Erfolg zu verbuchen, bekommt Mireya nun von Teamtrainer Eduardo den Auftrag, seinen Koffer ausfindig zu machen. Die dort verwahrten Bänder mit dem Programmiercode müsse sie nur in seinem Namen zur Startzeit in einen Computer einlegen und den Startbefehl geben, um das Programm zu starten.

Damit kehrt Mireya zum Austragungsort zurück – und nun kommt es zur ersten Verknüpfung der Erzählstränge: der sowjetische Trainer, den Mireya kurze Zeit später während einer Versammlung im Untergeschoss des Hotels „Kosmos“, wo die Programmier-Spartakiade stattfindet, zusammen mit den anderen kennen lernt, ist niemand anders als Leonid Ptuschkow, der im bisherigen Romanverlauf erst als junger Mann auftrat! Auf diesen richtet sich nun auch wieder die Aufmerksamkeit: In seiner Zeit im Krankenhaus hat er die schöne Nadeschda kennen gelernt, mit der er bald nach seiner Entlassung nach Moskau zurückkehrt. Er versucht, sein Studium der Angewandten Mathematik wieder aufzunehmen, doch das fällt ihm sichtlich schwer. Konzentrationsschwierigkeiten und Kopfweh machen ihm zu schaffen, er wirkt abgelenkt, und beginnt stattdessen aus einem plötzlich aufkommenden inneren Impuls heraus, Gedichte zu schreiben: „Statt Binären und Programmierbefehlen spukten ihm rhythmisierte Wortgruppen durch den Kopf“. Mit der Zeit kehrt die Konzentration zurück, doch Leonid macht sich Gedanken: War er nicht in einer ähnlichen Stimmung, damals, als er Sergei Alexejewitsch sein Notizheft mit mathematischen Versuchen präsentierte? Auf der Suche nach Antworten kehrt er in seinen Heimatort Feofania zurück, hat dort eine Epiphanie und macht sich an die Abfassung eines Traktakts über die „Automatisierte Ermittlung der Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenzen“. Er wird eingeladen, die neue Forschungseinheit OMEM zu unterstützen, wo er zum zum ersten Mal in Kontakt mit der ominösen Rechenmaschine GLM und einer großen Menge Lochkarten kommt.

Hier schwenkt die Erzählung zu einem Betriebsausflug einer Gruppe DDR-Geheimdienstler auf die Insel Warenz in den frühen sechziger Jahren. Kleinwerth, der spätere Trainer der DDR-Auswahl bei der Internationalen Programmier-Spartakiade, ist mit von der Partie, außerdem Achim Zwierer, der einen Geheimauftrag erhält, der mit der Beschaffung einer Rechenmaschine zu tun hat.

Neuer Handlungsort Kuba, im August 1961: Juri Gagarin, der erste Mann im All, besucht mit einer Entourage die Hauptstadt Havanna, darunter ein gewisser Oberst Bolaño; außerdem Personenschützer Sergei Bogosian, der es bald mit der etwas zudringlichen Plakatmalerin Aldonza Fuentes zu tun bekommt und mit ihr eine Nacht verbringt. Könnte sich hier ein Rätsel in Mireya Fuentes‘ Familiengeschichte lüften? Dmitri Sowakow indes, der schon länger nicht mehr auftrat, kehrt, im Jahr 1962, als Inspekteur der sogenannten „Meschpoweff“ zurück in die Handlung.

Es wird kompliziert: Während sich nach und nach die Bezüge der verschiedenen Handlungsebenen herausschälen, bereitet es beim Lesen mitunter Schwierigkeiten, den rasanten Zeitsprüngen zu folgen. Mit großer Hingabe ist beispielsweise die Geschichte von Leonid Ptuschkow erzählt (hier wurden beim Handlungdsprotokoll bewusst einige Auslassungen gemacht) – muss dann wirklich der in DDR-Strang hineingrätschen? Die Antwort darauf, was es nun wirklich mit der Quarantäne der kubanischen Programmierer auf sich hat, scheint sich der Erzähler absichtlich für später aufzuheben: Hier kommt es schon zu leichten Frustrationserscheinungen.

Fortsetzung folgt! Der dritte Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 1. März 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (1/4)

Eine „wilde und manchmal fantastische Erzählung“, ein „schillerndes Mosaik“, ein Roman „so unberechenbar wie die Geschichte selbst“: So wurde Matthias Senkels neuer Roman Dunkle Zahlen in der Frühjahrsvorschau des Verlags Matthes & Seitz Berlin beworben. In Leipzig war man angetan: „Eine anarchische Hommage an den Unernst“ befand die Jury und setzte das Buch auf Nominierungsliste für den Preis der Buchmesse. Für Lothar Müller war in der Süddeutschen Zeitung der Fall klar: Dunkle Zahlen sei nichts weniger als „eines der witzigsten, übermütigsten Experimente in der Gegenwartsliteratur“.

Grund genug, genauer hinzuschauen. Und da Dunkle Zahlen mit etwas unter 500 Seiten ein durchaus ausladender Roman ist, soll dies in den kommenden Wochen in der Form eines Lesetagebuchs geschehen, einer Form, die schon einmal Anwendung fand bei Thomas Pynchons komplexem Cyberspace-Roman Bleeding Edge. Angelegt ist das Lesetagebuch auf vier Teile, der erste Teil behandelt die Seiten 1-113.

Zack, Zack, gebe ich ihre Zahlen ein und tippe, zack, zack noch ein paar dazu, dann läuft die GLM heißer – so viel verstehe ich immerhin von den wundersamen Werken unserer Altvorderen.

Weißer Umschlag, schwarzer Titel, keine Autorenangabe: Kryptisch, „wie ein Rebus“ (Lothar Müller) präsentiert sich die äußere Aufmachung von Dunkle Zahlen. Allein die Rückseite verzeichnet Autor und Verlag, liefert einen kurzen Klappentext sowie einen Blurb von Olga Martynova: „Eine Parabel, die auch vor der Zukunft warnt“. Parabel? Schon ein erster Wink zur möglichen Rezeption? Aber erst einmal das Buch aufgeschlagen – und da folgt auch schon die zweite Irritation: Unvermittelt beginnt ein Textabsatz, in dem ein gewisser Motja von zwei Annuschkas darum gebeten wird, Teewasser für eine größere Gesellschaft aufzusetzen – was er auch prompt tut, indem er in eine nicht genauer definierte Maschine mit dem Namen GLM zwei Zahlen eingibt, worauf diese heißzulaufen beginnt. Die nächste Seite zeigt einen schwarzen Bildschirm mit ein paar Zeilen russischem Programmcode und der Erklärung, dass es sich hier um den Startbildschirm der Literaturmaschine GLM-3 handelt, die quasi auf Knopfdruck „das unvollendete Poem Dunkle Zahlen“ ausspuckt. Und wirklich: Jetzt erst folgen Titelseite, Verlagsangabe sowie der Vermerk „Deutsch von Matthias Senkel“, weiters ein Inhaltsverzeichnis in der Anmutung eines Schaltkreises, und das erste Kapitel „MSMP#01“, das in Moskau am 27. Mai 1985 einsetzt.

Die metafiktionalen Zeichen sind gesetzt: Wir sollen es hier also mit einem computergenerierten Roman in russischer Sprache zu tun haben, der von Matthias Senkel lediglich ins Deutsche übertragen wurde. Eine ziemliche Volte zur Eröffnung! Dafür ist man im ersten Kapitel gleich mitten im Geschehen: Es sind sieben Stunden bis zur Eröffnung der zweiten Internationalen Spartakiade der jungen Programmierer in Moskau, und der Vorsitzende Dmitri Sowakow muss sich mit der unangenehmen Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko herumschlagen, die eine nicht so ganz saubere Abhöraktion zu planen scheint. Ein kurzes Stimmungsbild – dann ist das Kapitel schon wieder zu Ende und wir springen ins Leningrad des Jahres 1948. Hier treffen wir auf den jungen Leonid Ptuschkow, einen wissbegierigen Schüler, der in seinem Notizheft mathematische Operationen improvisiert. Diese lassen Sergei Alexejewitsch Lebedew, Leiter eines örtlichen Labors, aufhorchen und alle Hebel in Bewegung setzen: Dieser Junge braucht einen Studienplatz in Moskau! Zurück im Jahr 1985 muss Mireya Fuentes, die Dolmetscherin des kubanischen Teams der Programmierer-Spartakiade feststellen, dass die Kader-Auswahl zwar in Moskau gelandet, aber aus unbekannten Gründen mit sofortiger Wirkung unter Quarantäne gestellt wurde. Da aufgrund der Zeitverschiebung niemand in Kuba zu erreichen ist und die Zeit drängt, beginnt sie, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Eingeschoben wird nun ein erneuter Rückblick in die Jugend der Geheimdienst-Majorin Jewhenija Swetljatschenko, die sich in einer vorerst nicht näher bezeichneten „nordrussischen Industriesiedlung“ ihre Sporen verdient, nachdem sie schon in ihrer Kindheit ausgeprägten detektivischen Spürsinn bei der Klärung von Nachbarschaftsstreitigkeiten an den Tag gelegt hat. Von Dmitri Sowakow erfahren wir ebenfalls mehr: Dieser arbeitet, bevor er Vorsitzender der Programmier-Spartakiade wurde, an experimentellen Stadtentwicklungsmodellen, die der herrschenden Parteilinie aber zu progressiv erscheinen. In der Konsequenz sieht sich auch Dmitri in die Provinz verschlagen, namentlich einem Arbeitslager, in dem im Akkord Rechenoperationen „für Forschung, Produktion und Verwaltung“ des Landes durchgeführt werden. Dmitris Aufgabe ist es, diese Prozesse zu optimieren und das Lager auf eine bevorstehende Automatisierung der Rechenleistung vorzubereiten. Nach einem enzyklopädieartigen Einschub über den Begriff der „dunklen Zahlen“ und ihre Bedeutungen richtet sich der Fokus wieder auf Leonid Ptuschkow, der mittlerweile am Institut für Angewandte Mathematik in Moskau studiert, wo er sämtliche Komilitoninnen und Komilitonen mit seinem Können überflügelt. Aus dem bequemen Studentenleben reißt ihn jäh ein Einberufungsbescheid – er muss fortan seine mathematische Begabung der Armee zur Verfügung stellen. Kurz bevor er sich zum unfreiwilligen Dauereinsatz verpflichtet sieht, wird er jedoch durch einen Unfall, der ihn für einige Zeit ans Krankenbett fesselt, aus dem Spiel genommen.

Die Hauptfiguren scheinen gesetzt: So ist zumindest zu hoffen, denn schon jetzt fällt es schwer, den Überblick über die verschiedenen Handlungsebenen zu behalten, die Matthias Senkel einführt. Ob und wie diese zusammengeführt werden, ist zu diesem Punkt völlig offen. Die Sowjetunion der fünfziger und achtziger Jahre schildert Senkel mit einem Auge fürs Detail, das intensive Recherche vermuten lässt. Voraussetzungsreich ist sein Schreiben allerdings auch – Begriffe wie „Komsomol“ oder Anspielungen auf das zeithistorische Alltagsgeschehen werden nicht näher erklärt oder kommentiert. Hinzu kommt, dass man Matthias Senkel als Erzähler auch nicht trauen kann: Unversehens montiert er nach Leonid Ptuschkows Studentenjahren nämlich nun das Kapitel „Nachwort“ ein, mitnichten ein Nachwort des Romans, sondern der Schluss einer Biografie über die auf genialische Weise ausgedachte Dichterfigur Gavriil Efimovič Teterevkin (1812-1841), dessen unollendetes Hauptwerk eine Art früher Quellcode für einen Proto-Computer ist, ein „eiserner Golem“, der, so der Plan des Dichters, auf Knopfdruck die gesamte Welt erzählen soll…

Fortsetzung folgt! Der zweite Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 22. Februar 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Rumpelstilzchen im Atomkraftwerk

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Matthias Nawrats kurzer Roman Unternehmer ist Parabel, Märchen, Dystopie, Coming-of-age-Roman: Eine aufregende Kombination, mit Sinn fürs Detail ausgearbeitet, die leider aber an manchen Stellen übers Ziel hinausschießt oder auch einfach nur anstrengend zu lesen ist.

Die Umschlagabbildung von Unternehmer ist bereits ein klug-doppeldeutiges Sinnbild für das Thema von Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, Biologie und später am Bieler Literaturinstitut studierte und beim Wettlesen in Klagenfurt – wie passend für diesen Roman – mit dem Preis der Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft ausgezeichnet wurde. Als Nicht-Muttersprachler erhielt er 2013 außerdem den Förderpreis zum renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.

Zu sehen sind zerfledderte Magnetspulen – genauso gut könnte es sich aber auch um Heuballen handeln, beides passt zum Setting dieser im ländlichen Schwarzwald verorteten Erzählung von Lipa, Berti und ihrem Vater, die als verschworene Gemeinschaft aufgelassene Fabriken nach Elektroschrott durchforsten, der gewinnbringend weiterverkauft werden kann.

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