Monde vor der Landung – Das Lesetagebuch (Teil 2)

Teil 2 (S. 177-352): We Are Scientists

„Ich erkannte nichts wieder“: Der erste Satz aus Rainald Goetz‘ Irre passt auch auf den Zustand von Peter Bender nach seiner Haftentlassung. Die Kinder sind auf unheimliche Weise größer geworden (obwohl es ja nur sechs Wochen waren!), Else, die Geliebte, nicht auffindbar. Auch die Wirtschaftslage ändert sich rasant: Die Inflation rast, alles muss schnell zu Geld gemacht werden, das seinen Wert im Stundentakt verliert. Seine wissenschaftliche Mission indes hat Bender nicht aus den Augen verloren: Der große „Menschheitskongress“ zur Verkündung des neuen Weltbilds ist sein großes Projekt, für das er auch seinen Mentoren Johannes Lang gewinnen will. Darüber hinaus schwebt ihm ein Buchprojekt vor, das natürlich ein großer Erfolg werden soll. Zur Sicherheit unterstützt Charlotte die Familie durch Verkaufsvermittlungen von Haushaltsgegenständen und unterrichtet Sprachschüler, was für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität des Haushalts sorgen. Politisch wird es turbulent, die Separatisten, die das Ende der Besatzung des Rheinlandes fordern, versuchen mit Gewalt die Macht an sich zu reißen. Bender, der mehr aus Versehen eine Rede vor ihnen gehalten hat, fühlt sich solidarisch. Allerdings ist es nicht so ganz einfach mit der Intention der Aufständischen: Soll sich der Rheinstaat Frankreich anschließen? Mehrmals ist auch von München die Rede, wo wohl ein Putsch im Gange sei – eine erste unheilvolle Aufwallung der nationalsozialistischen Bewegung – es ist das Jahr 1923. Bender lässt sich aber nicht von seinen Projekten abbringen: Gemeinsam mit Johannes Lang besucht er einen weiteren Vordenker der hohlen Welten, Karl Neupert. Die Begegnung verläuft allerdings ernüchternd, da Lang und Neupert sich in Nebensächlichkeiten verlieren. Als Geschenk erhält Bender einen kleinen Hohlglobus, den er sich stolz auf den Schreibtisch stellt – und so endet der erste Teil des Romans.

Ein kleiner Zeitsprung: Inzwischen ist Peter Benders Roman Karl Tormann erschienen, ansonsten scheint aber erst einmal alles wie immer: Die Kinder spielen, Bender sitzt mit originellen Gedanken im Garten. Dann ist auf einmal das Jahr 1933: Bender spricht auf einem Astrologenkongress in Stuttgart und erhält ungewohnt viel Zuspruch. Die Wissenschaft, ganz dem neuen Geist der Zeit verpflichtet, zeigt sich den unkonventionellen Sichtweisen gegenüber offen: Hohlwelt, aber auch weitere Theorien wie die Welteislehre scheinen plötzlich ungewöhnlich plausibel. Zuhause wird die Stimmung ungleich düsterer: Viele von Charlottes Nachhilfeschülern sind nun in der Hitlerjugend, Charlotte fühlt sich als Jüdin immer unwohler, auch erste Schikanierungen und nur scheinbar harmlose Streiche häufen sich in der Nachbarschaft; Bender wiegelt ab. Er ist schon beim nächsten Projekt: Er erhält eine Einladung zu einem Raketenstart, der den Beginn der bemannten Raumfahrt bedeuten soll; außerdem hat er eine Korrespondenz mit den ehemaligen Jüngern von Cyrus Teed, den Koreshianern, aufgenommen. Bald zieht sich aber die Schlinge auch um ihn zu: Er wird von der SA („wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und Mitarbeit in einer verbrecherischen Organisation“) festgenommen und landet im Gefängnis – bereits zum zweiten Mal.

Die manische Geschäftigkeit Benders, der fast ständig an neuen Theorien arbeitet (unerwähnt geblieben ist hier z.B. seine Idee einer Gewerkschaft der Mütter und die faszinierende Interpretation der Inflation als „das alternde Geld“) prägen das zweite Drittel von Setz‘ Roman. Einige historische Fakten wie die drohende Sezession des Rheinlands unter französischer Protektion lohnen sich auf den einschlägigen Wikipediaseiten nachzulesen, hier taucht Setz in wenig beleuchtetes historisches Territorium ein. Andere zeitliche Marker wie etwa die Machtergreifung Hitlers 1933 werden dagegen gar nicht erwähnt – die schleichende Bedrohungslage wird hier eher subkutan deutlich gemacht. Bruckstückhaft bleibt doch wieder frustrierend vieles: Warum wird Bender jetzt genau ein zweites Mal verhaftet? Immerhin gibt ein Gespräch mit seinem Nachhilfeschüler Hasso Keller nun ohne Umschweife Einblicke in das Bild des Hohlwelt-Universums („Wir sind innen. Der Erdboden geht weiter, und dann nach oben, er umspannt uns“) und der Theorie der Innenkugeln („Und in der Mitte der Kugel lebt noch eine andere Kugel, auf der alle Gestirne sind“). Gekonnt baut Setz auch Leitmotive wie den einzelnen Fußabdruck aus Robinson Crusoe in die Handlung ein: Dieser begegnet Bender in unterschiedlicher Form immer wieder und strahlt dabei fast etwas Tröstendes aus.

Lieblingszitate:

„Nicht einmal still gegen die Verhältnisse andenken kann ich.“ (S. 212)

„Ein Mann, der dre Gießkannen in einer Hand halten kann, während er mit der freien Hand herzlich den Gruß erwidert: Das war Karl Neupert.“ (S. 234)

„Ach, es war traurig, niemand sonst hatte so schöne Gedanken wie er. Und sie konnten nirgends hin.“ (S. 250)

„Vögel kennen das Geheimnis, aber nicht wir Piloten.“ (S. 325)

Am Ende wacht der Leguan

Es ist der Roman, mit dem alles anfing, lange vergriffen, Stoff von Legenden: Jetzt hat der Verbrecher Verlag das Debüt von Dietmar Dath, mit dem 1995 die Verlagsgeschichte begann, wiederveröffentlicht.

Cordula killt dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeinenheini. Roman der Auferstehung spielt in der damaligen unmittelbaren Gegenwart, dem Jahr 1994, greift aber auch bis tief in die achtziger Jahre zurück. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von jungen Leuten, die in Freiburg leben; eine von ihnen ist die Avantgarde-Komponistin Cordula Späth, die, so der Auftakt, Anlass und Thema des Romans, aus ihrem WG-Fenster fällt und stirbt. Ihr Mitbewohner Dietmar Dath beschließt daraufhin, einen Roman über ihr Leben und die freundschaftlichen Verwicklungen zwischen ihm, Cordula, dem drittem Mitbewohner Wolfgang, außerdem Cordulas Ex-Freundin Katja Benante und viele weitere Personen aus dem Freundeskreis zu schreiben. Er erinnert sich an seine Schulzeit, beschreibt seine ersten journalistischen Versuche. Ständig reflektiert er dabei das Schreiben selbst, schweift in schwer nachzuverfolgende Gedankengänge ab, montiert Briefe, Textdokumente von Dritten ein. Das ist oft lustig, an vielen Stellen aber auch etwas hermetisch.

Ja! Ziemlich kindlich fällst Du ins erste Kapitel. Vertrauensvorschuß kannst Du ja geben.

Die ersten Worte: Immanuel, Immanuel, Immanuel, Immanuel Kant. (T-e-c-h-n-o: Immanuel, bip, Immanuel, bip, Immanuel, bip, Immanuel, bip, Immanuel, bip, Kant, smASSH!)

Das Cover der Erstausgabe von 1995 (Abbildung: Verbrecher Verlag)

Dass Cordula killt dich 1995 aber literarisch eine ziemliche Ausnahmeerscheinung gewesen sein muss, steht fest: Dath meidet das lineare Erzählen wie die Pest, baut musiktheoretische Exkurse, Dr.-Mabuse-Obsessionen sowie eine aberwitzige Science-Fiction-Handlung in den Roman ein und folgt auch stilistisch einem ganz eigenen Regelsystem: Da wird gelautmalt, in Unterhaltungen naturalistisch mit „Ähs“, „Öhs“, Stottern und Wortwiederholungen gearbeitet, sogar (und das 1995!) gegendert und die Selbstreflexivität auf immer neue Spitzen getrieben. Und in der Rückschau kann man Cordula killt dich auch als historischen Roman lesen: Die Grunge-Ära der frühen neunziger Jahre ist genauso gut eingefangen wie das Computer-Zeitalter, MS-DOS-Befehle, Texte, die auf Disketten gespeichert werden (unter anderem der vorliegende Roman selbst) und die das Internet vorwegnehmende Usenet-Umgebung, aber auch die gesellschaftspolitischen Umstände, in denen Daths Figuren in den achtziger Jahren zwischen Kaltem Krieg, Sowjet-Propaganda, Trotzkismus und der leidigen südwestdeutschen Provinz aufwachsen, werden deutlich sichtbar.

Ob das weitverzweigte Werk Dietmar Daths, das in den 26 Jahren nach Cordula entstanden ist und allein knapp 30 Romane umfasst, davon zwei für den Deutschen Buchpreis nominiert (Die Abschaffung der Arten 2008, Gentzen oder: Betrunken aufräumen 2021), schon zu erahnen ist, wenn man Cordula killt dich liest? Der hyperrealistische, bis an die Schmerzgrenze scharfgestellte und alles erfassende Erzählstil, der auch Gentzen ausmacht, ist hier jedenfalls schon angelegt, ebenso die Fragilität des Roman-Konstrukts, die sich in diesem jüngsten „Kalkülroman“ äußert. Eine weitere Volte dreht Dath übrigens in einer eigens für die Neuausgabe von Cordula killt dich geschriebenen Erzählung, in der die Figuren des Romans in ihren Autor wegen „feigem Formalismus“ vor Gericht stellen – und den Roman mit seiner eigenen Rezeptionsgeschichte konfrontieren. Das Buch selbst liegt währenddessen auf einem Baumstumpf, bewacht von einem vergilbten Leguan. Und das ist eigentlich ein ganz schönes Schlussbild.

Dietmar Dath: Cordula killt dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung. Verbrecher Verlag, 2021 (Erstausgabe erschienen 1995), 376 Seiten, 24 €