Back to Böhmisch-Locarno

Lange her und doch wie gestern: Zehn Jahre nach Die Meisen von Uusima singen nicht mehr kehrt Franz Friedrich zurück auf die literarische Bildfläche. Die Passagierin ist ein zauberhaft-phantastischer Roman, der mit den vertrauten Gesetzmäßigkeiten der Zeit kurzen Prozess macht.

Der Ort ist Kolchis, Hafen der Zeit. Heather Hopeman war hier schon einmal, jetzt kehrt sie zurück. Sie war Teil einer Gruppe von ausgewählten Zeitreisenden, die aus ihrer Gegenwart evakuiert wurden, und anschließend als Forschungsreisende in allen möglichen Epochen unterwegs. Aber die Arbeit setzt ihr zu: „Phantomerinnerungen“ plagen ihren Alltag, und durch die Rückkehr an den Ort, den sie mit einer glücklichen Zeit verbindet, hofft sie, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Nach der Einstellung der Evakuierungsmissionen ist das ehemals pulsierende Kolchis nur noch ein Schatten seiner selbst: Viele der Sanatorien, aus denen es besteht (und die wunderbare Namen wie etwa „Böhmisch-Locarno“ tragen), sind verfallen, eine minimale Anzahl an Einwohnern hält noch die Stellung, während die Verwaltungsarbeit durch die mysteriöse Instanz der „Republik der Kinder“ erledigt wird.

Eine zauberberghaft-schläfrige Stimmung liegt über diesem Handlungsort, und tatsächlich passiert auch gar nicht so viel, was an dieser Stelle auf Plot-Ebene wiedergegeben werden könnte. Stattdessen nimmt sich Franz Friedrich über hunderte Seiten hinweg die – nun ja – Zeit, Lebensumstände, Hintergründe und zwischenmenschlichen Beziehungen des Kolchis-Personals wiederzugeben. Besonders in den Vordergrund rückt hier Matthias, der schnell eine der engsten Bezugspersonen Heathers wird. Er ist aus der Zeit der Bauernkriege evakuiert worden und berichtet in den regelmäßgen Gesprächssitzungen der Bewohner mit einem gewissen Widerwillen über seine Erlebnisse während der Schlacht um Frankenhausen, bei der das Heer des Bauernanführes Thomas Müntzer 1525 seine entscheidende Niederlage erlitt, was wiederum das Ende der Aufstände einläutete. Matthias hadert mit den Gründen und Folgen seiner Evakuierung, fühlt sich schuldig, ringt mit dem Gedanken, dass die Geschichte vielleicht ganz anders hätte verlaufen können und stellt die Sinnhaftigkeit der Zeitreisen insgesamt in Frage.

Was ich mir wünsche oder nicht, spielt keine Rolle. Schuldzuweisungen und Mitgefühl dienen nur dem Zweck, die einen zu entlasten und die anderen zu versöhnen. Es geht mir aber nicht um die Bewertung. Mich beschäftigt das Ereignis an sich, die Frage, ob es zwangsläufig so eintreten musste oder verhinderbar gewesen ist. Die Aufständischen waren den Fürstenheeren zahlenmäßig überlegen, sie hätten nicht verlieren müssen, sie waren die vielen, das ist ein Fakt, so dass es falsch ist zu sagen, die Forderungen der Bauern seien nicht realisierbar gewesen. Sie wären es, wenn sie gewonnen hätten, darauf möchte ich hinaus.

Heather hingegen, die ihren Aufenthalt auf unbestimmte Zeit verlängert, beginnt sich an ihre Kindheit zu erinnern, ordnet im Gespräch mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern ihre Vergangenheit und bereitet sich auf eine wichtige Entscheidung vor: Soll sie dauerhaft in Kolchis bleiben, gar eine leitende Position in der Gruppe übernehmen? Oder führt ihr Weg sie zurück in ihre Vergangenheit im Ostdeutschland der 90er Jahre, an einem kleinen Ort an der Elbe?

Franz Friedrich ist mit seinem Zweitwerk ein träumerisch-phantastischer Roman gelungen, der nur so vor originellen Ideen und beeindruckend genau recherchierten Fakten sprüht. Es fällt leicht, beim Lesen in die erst einmal so fremdartige Welt der Kolchis-Bewohner einzutauchen, die einem ganz eigenen Regelwerk gehorcht. Manche Details des Weltenbaus bleiben – wohl ganz bewusst – im Dunkeln, nicht alle Geheimnisse werden gelüftet. Vielleicht auch deswegen sollte man auch etwas (ähem!) Zeit mitbringen, wenn man Die Passagierin liest.

Franz Friedrich: Die Passagierin, S. Fischer Verlag, 25 €

Interview mit Franz Friedrich zu seinem ersten Roman Die Meisen von Uusima singen nicht mehr

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