Ein Wir, das mit vielen Mündern Fanta trinkt

Im kleinen Matthes & Seitz-Imprint Rohstoff erscheinen seit 2022 Bände, die sich marktgängigen Formen entziehen: Preisgünstig und mit einem hohen Wiedererkennungswert liegen bislang Bände von Autor*innen wie Tim Holland, Kinga Tóth, Hannes Bajohr und Heike Geißler, aber auch vielen noch eher unbekannteren Namen wie Anton Artibilov, Mari Molle oder Aslı Özdemir in einer Reihe vor, die bereits auf 20 Titel angewachsen ist.

Im aktuellen Programm sticht der Titel außerhalb der blessuren von Hannah Schraven, herausgegeben von der Lyrik-Zeitschrift Transistor, heraus. Hannah Schraven, die sich als Künstlerin und Dichterin versteht, konnte man bisher mit Texten z.B. in dem digitalen Avantgarde-Magazin ­ entdecken; ihr erster eigener Band exerziert auf kleinstem Raum die Selbsterforschung eines lyrischen Ichs durch, das zwischen den Seiten seine binäre Identität dekonstruiert und dabei bis zur Verschmelzung zwischen Mensch und Tier fortschreitet.

In den Text eingestreute QR-Codes verweisen auf Performance-Sequenzen, die körperlichen Nahaufnahmen, Pflanzen, und einen aufblasbaren Plastikdelfin zeigen und eine hochartifizielle Atmosphäre erzeugen.

Der Text wiederum, in losen Versen großzügig über den Raum verteilt, teils als Langgedicht, teils in kleineren Einheiten zu lesen, teils in helle Graustufen abtönend und mit zahlreichen Zitaten von McKenzie Wark über Adrienne Rich bis Deleuze & Guattari angereichert, ist Protokoll einer (postpandemischen?) Selbstisolierung und angelegten Grenzüberschreitung:

seit drei tagen versuch ich aus meinen chromosomen ein nobles emblem zu machen. sitz in den laken trinke leitungswasser. immer zur halben stunde drängt ein neuer song salzige partikel an die oberfläche. die verkrusten und bilden ein icon am rande der iris. das sieht aus wie ein gletscher im südlichsten teil der antarktis. was ich mit mir herumtrage ist zäh und an den säumen unnachgiebig

Die Bildsprache ist gewählt: Biologisches und geologisches Vokabular, wird aber in schöner Regelmäßigkeit durch Alltägliches geerdet, etwa wenn sich das lyrische Ich eine Biozisch-Limonade aus dem Kühlschrank holt oder, im weiteren Verlauf, „mit vielen Mündern Fanta trinkt“. Denn was hier eigentlich passiert, oder passieren möchte, ist eine Metamorphose: Ein Seidenkaftan wird gegen Guppys getauscht, die Haare abrasiert, der aufblasbare Plastikdelfin („mein diva dolphin“) lockt mit seiner berückenden Künstlichkeit. Gibt es einen Punkt außerhalb der Blessuren, der zu erreichen ist? Die Versuchsanordnung, die Hannah Schraven in ihrem Debütband aufbaut, ist schon einmal vielversprechend.

Hannah Schraven: außerhalb der blessuren. Rohstoff Verlag, 56 Seiten, 10 €

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