Zerschlagt die Moleküle!

In Verena Güntners Power gerät die Suche nach einem verschwundenen Hund zu einer leidenschaftlich erzählten Parabel über das Zerbrechen der Gesellschaft.

Tatsächlich werden die Spuren, das hier etwas ganz gehörig aus den Fugen gerät, schon recht früh gelegt: Warum steht in der Eröffnungsszene ein Mädchen mit zerrissener Kleidung, zerzausten Haar und einem Bündel Zweige in der Hand vor einem Kaufhaus? Klären wird sich das erst ein ganzes Stück später im Buch. Erst geht es zeitlich ein paar Wochen zurück: Hilde Hitschkes Hund Power ist verschwunden. Sie beauftragt die junge Kerze damit, ihn wiederzufinden, die sofort mit der Suche loslegt. In dem kleinen Dorf, in dem Verena Güntners neuer Roman spielt, scheint das eigentlich eine leichte Aufgabe. Doch es wird sieben Wochen dauern, bis Power wieder auftaucht. Und in denen wird so ziemlich jegliche Ordnung in der kleinen Dorfgemeinschaft auf den Kopf gestellt werden. Zum einen durch Kerzes rigorose Ermittlungsarbeit, die schnell die Aufmerksamkeit weiterer Kinder auf sich zieht, die sich ihr anschließen. Zum anderen durch den ohnehin schon fragilen Zusammenhalt der Gemeinschaft, die durch Suchaktion, die schnell das beherrschende Thema der gerade beginnenden Sommerferien werden, vollends zerfällt. Kerze, die sich alle ihre Beobachtungen fein säuberlich in ein vorbereitetes DIN-A-5-Heft notiert, entwickelt zunehmend eigenwilligere Methoden, um den verschwunden Power wiederzufinden: Sie, und nach und nach auch die anderen Kinder des Dorfes, beginnen sich selbst wie Hunde zu verhalten, bellen, laufen auf allen Vieren, lehnen das Essen mit Messer und Gabel am Tisch ab. Der Höhepunkt ist erreicht, als die Kinder des Dorfes, als sie eigentlich schon kurz vor dem Aufgeben stehen, in einem letzten Kraftakt beschließen, gemeinsam in den Wald zu ziehen und sich dort als Rudel neu zu organisieren.

Treibend für diese Bewegung ist die charismatische und willensstarke Kerze (sie hat sich den Namen übrigens selbst gegeben), elf Jahre alt und fest entschlossen, ihren Auftrag zu Ende zu führen. Dabei geht sie beeindruckend souverän, aber auch mit einer mitunter grausamen Unerbittlichkeit als Anführerin vor:

Stumm, die Zähne aufeinandergepresst, treibt sie die Gruppe vorwärts und führt sie tiefer und tiefer in den Wald hinein. Denn sie weiß, es wird besser werden. Sie werden sich an die Schmerzen gewöhnen, bis sie auf ein erträgliches Maß schrumpfen und schließlich ganz vergehen. Nichts bleibt so schlimm, wie es am Anfang scheint, das weiß sie, das hat sie erlebt. Es gibt keinen unbesiegbaren Gegner. Die Grenzen sind durchlässig, immer.
„Zerschlagt die Moleküle“, ruft Kerze am sechsten Tag, als alle nur noch wimmern.
„Ich kann nicht mehr“, jammert Flori.
„Doch, du kannst!“

Daneben stellen mehrere Nebenhandlungen die zurückgebliebenen Bewohner des Dorfes näher vor, durch die mit der Zeit ein immer deutlicherer Riss geht: Auf der einen Seite steht Hilde Hitschke (oder einfach nur: „die Hitschke“, um in der Sprache des Romans zu bleiben), deren Welt langsam zerbricht, weil nach ihrem Mann Karl, der sie vor sechs Jahren verlassen hat, nun auch noch ihr Hund verschwunden ist; auf der anderen Seite steht der Sohn des Großbauern Huber („der Hubersohn“), ein zarter junger Mann, der so gar nicht für das Landleben gemacht ist, aber dafür um so mehr den starken Macher hervorkehren will und eine Bürgerwehr auf die Beine stellt, die dafür sorgen soll, dass die Kinder wieder zurückkehren.

Verena Güntner erzählt diese Geschichte, die sich mit der Zeit immer mehr auf einen düsten Showdown hinzubewegen droht, in einer mitreißend direkten Sprache, am Sound ihres Debüts Es bringen geschult, in dem sie sich gekonnt den Blickwinkel eines großspurig auftretenden Teenagers angeeignet hat. Gleichzeitig wirkt diese aus den Fugen geratende Abenteuergeschichte wie eine Parabel, die entschlossen mit gesellschaftlichen Phänomenen wie Verrohung, Zusammenbruch der Kommunikation und dem Zerbrechen von Zusammenhalt abrechnet.

Verena Güntner: Power. DuMont Buchverlag, 254 Seiten, 22 €

Verena Güntner ist zusammen mit Maren Kames, Leif Randt, Ingo Schulze und Lutz Seiler für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 in der Kategorie Belletristik nominiert. Die Preisverleihung findet am 12. März im Rahmen der Leipziger Buchmesse statt.

Ein Spaziergang durch den Zoo

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Zur Entdeckung der Lyrik für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015: Ein Gastkommentar von Christoph Szalay.

Gestern wurden die diesjährigen Kandidaten für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 bekanntgegeben. Darunter befindet sich mit Jan Wagner zum ersten Mal seit dem mittlerweile zehnjährigen Bestehen des mit insgesamt 60.000 Euro dotierten Preises (für die drei Kategorien Belletristik, Sachuch/Essayistik und Übersetzung) ein Lyriker. Der erste Lyrikband auf der Shortlist nach zehn Jahren. Darüber ließe sich bereits vieles sagen. Zunächst vor allem bzw. jedoch, dass das ein Tatbestand ist, der freut. Dass es scheinbar doch möglich ist, sich der Maxime folgend, jedes einzelne Wort, jeden einzelnen Satz geltend zu machen, für einen solchen Preis zu empfehlen. Das ist jedoch auch bereits der Punkt, an dem die Freude aufhört.

„Ein Lyriker für den Buchpreis – warum nicht!?“, so in etwa ließe sich Richard Kämmerlings Kommentar zu Wagners Nominierung in der WELT tradieren. Ja, warum nicht? Warum nicht mehr davon und warum nicht selbstverständlich und warum braucht es den Hinweis auf eine Überraschung, „sicher die größte (Überraschung) – und doch vollkommen plausibel.“ Plausibel vielleicht, weil sich das, was sich in den „letzten zehn, fünfzehn Jahren in Deutschland getan hat, endlich einmal eine Würdigung auf großer Bühne“ verdient hat, vielleicht aber auch, weil „die richtig großen Namen in der Belletristik fehlen.“

Literatur ist ein Markt, wie jeder andere auch, das ist eine alte Geschichte, ebenso die Tatsache, dass er auch denselben Mechanismen, zu dem auch Preise, wie jener der Leipziger Buchmesse zählen, folgt. Die Tatsache, dass es zehn Jahre gedauert hat, einen Gedichtband auf die Shortlist zu setzen, unterstreicht nur einmal mehr, wie dieser Markt denkt. Prämiert wird, was lesbar, was zeigbar, was verkraftbar ist. Für Lyrik scheint all das nach wie vor nicht zu gelten. Passierte es nun aber doch, schickte sie sich nun doch einmal an, auf die Shortlist zu kommen, die Lyrik, so müsse sie „gleichermaßen form- und traditionsbewusst und in unverwechselbar-originellem Stil“ sein. Der Raum also, innerhalb dessen sich Lyrik bewegen kann und darf, sollte sie auf die große Bühne gehievt werden, ist demnach ebenso vorgegeben, wie die allgemeine Meinung, dass sie dort eigentlich nicht wirklich hingehört. Literatur also als Domestizierung, als Exotismus, als feiner und netter nachmittäglicher Spaziergang durch den Zoo.

Einen Gedichtband auf die Shortlist eines der wichtigsten deutschsprachigen Preise zu setzen, zeugt also weder von Mut, noch von Weitsicht noch von sonst etwas anderem, sondern schlicht und einfach von der Arroganz, sich, wie in diesem Fall, seit einem Jahrzehnt nicht mit dem, was zeitgenössische deutschsprachige Lyrik kann und macht und ist, auseinanderzusetzen.

Christoph Szalay wurde 1987 in Graz geboren. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband Asbury Park, NJ im Luftschacht Verlag.

Wie von Sinnen lag ich da

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Schlafwandler kreuz und quer durch Europa: Wer wissen will, was Literatur jenseits von Familien- und Beziehungsdramen vermag, für den führt in diesem Frühjahr an Dorothee Elmigers neuem Roman Schlafgänger kein Weg vorbei.

Wobei – wie schon beim letzten Buch – wieder spätestens nach der zweiten Seite die lästige (weil eigentlich völlig unnötige) Frage auftauchen mag: Ist das überhaupt noch ein Roman? Antwort: Egal! Geht doch diese Prosa ohnehin ihrer ganz eigenen Wege, so kühn und experimentell montiert, noch ein ganzes Stück experimenteller als in Einladung an die Waghalsigen, ist dieser neue Text, der gleich fünf Hauptpersonen hat, die abwechselnd ihre Geschichten erzählen, bruckstückhaft, fragmentarisch, man kann sich nicht einmal sicher sein, ob diese Personen sich beim Sprechen im selben Raum befinden, also wer wem gerade genau erzählt, so oft kommt es zu Überschneidungen, Wiederholungen und unvermittelt wechselnden Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen.

Dieses Geschehen, das flüchtige, oszillierende Thema des Romans, lässt sich vielleicht am besten mit einem stetigen Kommen und Gehen umreißen: Es geht um afrikanische Flüchtlinge in einer Grenzstadt nahe Basel, die hinein wollen, dann aber wieder um die Bewegung fort, aus der Schweiz, diesem „nur scheinbar geschlossenen Ganzen“, an die Grenzen Europas, nach Portugal zum Beispiel. Ein guter Teil des Romans spielt aber auch in Los Angeles, der Stadt, die auf „tausend kleinen Erhebungen“ (eine kleine Reminiszenz an den glühenden Flöz in der Einladung an die Waghalsigen) erbaut wurde. Ähnlich auch zum Vorgängerroman – freilich aber viel genauer herausgearbeitet und formuliert – die Atmosphäre: In allem, was die Hauptfiguren, im Übrigen anscheinend ein willkürlich zusammengeworfener Haufen, ein „Logistiker“ ist darunter, eine Schriftstellerin, eine Übersetzerin, ein Musiker und eine Frau, die nur mit ihrem Namen A.L. Erika vorgestellt wird, in allem, was diese Figuren also berichten, schwingt eine bedrohliche, beunruhigend-ruhelose Stimmung mit: Gewalt, Unterdrückung oder schlicht, und das ganz ohne Witz, eine Angst vor dem bevorstehenden Weltuntergang.

Im Schlaf, sagte die Übersetzerin, sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen, wie von Sinnen lag ich da, aber still, hörte auch Geräusche in diesem Zusammenhang, die Gipfel zerbrachen vor meinen Augen, alles stürzte langsam ein und kam mir als Geröll entgegen, Gestein wurde durch die Luft geschleudert, ich sah, wie die Flanken in Bewegung gerieten, in Stücke zerfielen, alles kam auf mich zu. Später wachte ich auf, der Raum war leer, die Heizung auf höchster Stufe eingestellt. Unverändert lag die Landschaft vor den Fenstern, das ganze nächtliche Panorama, das aufgefaltete, das gestapelte Gestein.

Dass das immanent politische Literatur ist, die ohne Zeigefinger, vielmehr im Auffangen einer Stimmung viel über eine Zeit aussagt, der nahezu alle Sicherheiten abhanden gekommen sind, dass sie das aber auch in einer Sprache vermag, die vor Schönheit fast zerbirst, ohne je pathetisch oder gekünstelt zu wirken, das ist eine Kombination, die nur in absoluten Glücksfällen, wie dies zweifellos einer ist, gelingt.

Dorothee Elmiger: Schlafgänger. DuMont Verlag, 160 Seiten, 18 €

Dieser Artikel erscheint live von der Leipziger Buchmesse 2014. Dorothee Elmiger stellt ihren Roman Schlafgänger im Rahmen von „Leipzig liest“ an folgenden Terminen vor:

Donnerstag, 13. März, 21 Uhr: Lange Leipziger Lesenacht

Samstag, 15. März, 18 Uhr: «Auftritt Schweiz» (Schauspielhaus)

Sonntag, 16. März, 16 Uhr: Schweizer Forum (Glashalle)

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