Stacheldrahtzaun, Drachenstahlhaut

Bettina Wilperts neuer Roman Herumtreiberinnen ist ein Ereignis: Auf drei Zeitebenen erzählt er von Tyrannei, Frauenhass und darüber, was das „Wegsperren“ mit Menschen macht.

Wie schon Nichts, was uns passiert überzeugt auch dieser Roman durch seine genaue, fast strenge Komposition: Während sich die Schlinge um seine Protagonistinnen zunehmend enger zieht, wechselt er virtuos die Ebenen, jede davon wirkt authentisch, ist akribisch recherchiert und auf ihre eigene Weise mitreißend geschrieben.

Es beginnt mit einer lockeren Sommererzählung in der DDR der frühen achtziger Jahre. Die 17-jährige Manja und ihre beste Freundin Maxie schwänzen die Schule, träumen in den Tag hinein, Maxie vom Weltraum, Manja vom Ausreißen. Nicht zufällig teilt sich Manjas Freundin ihren Vornamen mit Maxie Wander, einer österreichischen Schriftstellerin, die in der DDR den berühmten Interview-Roman Guten Morgen, du Schöne veröffentlicht hat: Die durchweg aus der Ich-Perspektive wiedergegebene Handlung hat ebenfalls etwas Dokumentarisches, als hätte Bettina Wilpert reale Person porträtiert: Fiktive Protokollliteratur, gewissermaßen. Dieser kurze erste Teil des Romans endet indes abrupt: Manja wird von der Volkspolizei verhaftet, nachdem sie mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel in dessen Wohnheim im Bett erwischt wurde und findet sich auf der venerologischen Station in einem Backsteingebäude in der Leipziger Lerchenstraße wieder.

Die Tripperburg heiße nicht umsonst Tripperburg, sagte sie, der Mann nickte. Ich stehe unter Verdacht, eine Geschlechtskrankheit zu haben, man würde mich gleich untersuchen auf Gonorrhoe und Streptokokken und so weiter, alles was solche wie ich eben hätten. Was Untersuchung bedeutete, erklärten sie mir nicht. Sie sagte: Laut Paragrafen soundso sei es gesetzeswidrig, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten; ein Luftzug brachte einen Geruch in den Raum, der mich an Birnen erinnerte. Alle Geschlechtspartner von mir müssten ebenso untersucht werden, bekämen eine Vorladung, ich solle ihre Namen nennen, für ihre Gesundheit. Ich sagte nichts. Appellieren hilft bei der nichts, meinte die Frau zu dem jungen Mann gewandt, als könnte ich sie nicht hören. Ich wiederholte, ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr. Sie seufzten, sie legten den Stift auf das Blatt, legten das Blatt in einen Ordner, klappten den Ordner zu. Sie führten mich in einen anderen Raum, ich fror unter dem grauen Kittel.

Im zweiten Teil des Romans folgt zunächst ein Sprung ins Jahr 2001, wo Robin, die nächste Hauptfigur, die wir auf ihrem Weg begleiten werden, die Ereignisse des 11. September und den Einmarsch der USA in Afghanistan erlebt. Es ist nur ein kurzer, aber einschneidender Augenblick der Politisierung für Robin, das nächste Mal treffen wir sie erst 2015 wieder, als sie sich mit der Situation der vor dem Krieg in Syrien Geflüchteten zu beschäftigen beginnt.

Doch zuvor zieht Bettina Wilpert noch eine weitere Zeitebene in den Roman ein, und der Fokus schwenkt auf das Frühjahr 1945: Lilo ist die Tochter kommunistischer Widerstandskämpfer, deren Zelle aufgeflogen ist, wird nach dem Prozess von ihrer Familie getrennt und durchläuft eine Gefängnisodyssee, die sie schließlich in dasselbe Gebäude in der Lerchenstraße führt, wo auch knapp vierzig Jahre später Manja einsitzt.

Herumtreiberinnen sind drei Romane in einem – und das auf nur knapp 260 Seiten. Tief beeindruckend schafft es Bettina Wilpert, den Wegen ihrer drei sehr unterschiedlichen Hauptfiguren zu folgen und erzählt leidenschaftlich vom Schrecken des Naziregimes, den grauen achtziger Jahren in der DDR und einer Gegenwart, in der Robin zwischen Tinder-Matches und Büro-Alltag langsam die wechselhafte Geschichte des Gebäudes in der Lerchenstraße entdeckt.

Dieses ist nämlich, mittlerweile haben wir 2016, nun saniert und zu einer Unterkunft für geflüchtete Menschen umfunktioniert worden; Robin, die, obwohl mit ihrem Studium in Sozialer Arbeit unzufrieden, auf Jobsuche war, arbeitet in der Verwaltung und entdeckt bei Kellerarbeiten bergeweise Akten aus der DDR-Zeit.

Manjas Erlebnisse in dem von Stacheldraht eingefassten Backsteingebäude der venerologischen Station („auf der Mauer sehen wir Stacheldrahtzaun und denken: Drachenstahlhaut“, heißt es einmal), die in den drei Zeitebenen des Romans die Mitte einnehmen, sind auch so etwas wie das Herzstück von Herumtreiberinnen. Auch ist nur dieser Teil durchweg aus der Ich-Perspektive erzählt, was die Ungerechtigkeiten, die Manja widerfahren, beim Lesen noch näherkommen lässt – seien es die sadistischen, aus medizinischer Sicht unnötigen Morgenuntersuchungen, denen sich jede Insassin unterziehen muss, oder die brutale Hackordnung der Gefangenen untereinander. Es wird immer klarer, dass der vorgebliche Grund, der Schutz der Gesellschaft vor Geschlechtskrankheiten, nur mehr Mittel zum Zweck ist, unerwünschte oder abweichlerische Frauen wegzusperren und sie für ihr Zuwiderhandeln gegen die staatliche Ordnung zu bestrafen. Am frappantesten wird das bei der Geschichte Marions, einer Mitgefangenen deutlich, die als Edelprostituierte zunächst von der Stasi als nützliche Informantin eingesetzt wird, dann aber eine weitere Zusammenarbeit verweigert und ebenfalls in der Lerchenstraße zwangseingewiesen wird.

Es sind kleine Binnenerzählungen wie diese, die Bettina Wilpert besonders gut gelingen: Auch in der Zeitebene um Lieselotte Kramer, der Tochter des kommunistischen Widerstandskämpfers, die sich zäh darum bemüht, auch politisch tätig werden zu dürfen und erst ganz am Ende ihrer Geschichte in der Lerchenstraße inhaftiert wird, verarbeitet Wilpert zahlreiche, Alltagsepisoden, die ein faszinierendes Kolorit Leipzigs in der Zeit des Zweiten Weltkriegs bilden.

Da empfand Lilo zum ersten Mal Wut auf die Eltern – und die Nazis. Sie war zehn und wurde nach wie vor nicht ernst genommen und in die Geheimnisse der Erwachsenen eingeweiht. Wann würde die Mutter sie endlich als Gleichberechtigte behandeln? Sie war sauer auf ihren Vater, dass er vor ihnen geflohen war. Sie verstand immer mehr von Politik, durchschaute noch nicht alles, wusste immerhin, dass die Nazis ihr ihren Vater genommen hatten, diese Schweine. Wenn sie nun SA-Männern auf der Straße begegnete, strafte sie sie mit bösen Blicken, aber im Gewusel auf dem Bürgersteig fielen die drei Kinder, die allein unterwegs waren, nicht auf.

Nach Nichts, was uns passiert ist Bettina Wilpert mit Herumtreiberinnen ist ein weiterer, äußerst bemerkenswerter Roman gelungen. Er wirft Schlaglichter auf Zeiten politischen Widerstands, grausame staatliche Willkür und nicht zuletzt die wechselhafte Geschichte ein und desselben Gebäudes in der Lerchenstraße als Ort, an dem sich niemand gerne aufhält.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen. Verbrecher Verlag, 266 Seiten, 25 €

Ein Schlag ins Kontor

Es ist die klassische David-gegen-Goliath-Geschichte: Eine wackere Kiezbuchhandlung kämpft gegen milliardenschwere, gesichtslose Immobilienspekulanten – jetzt ist sie ohne ein Happy End ausgegangen.

Thorsten Willenbrock steht gegen 11 Uhr an diesem Donnerstag in Moabit sichtlich geknickt am Mikrofon: Das Gericht hat der Räumungsklage der „Victoria Immo Properties V S.a.r.l“ soeben stattgegeben. Zuvor hatte bereits Stefan Klein von der Initiative GloReiche Nachbarschaft, einer der zahlreichen Unterstützer in Willenbrocks Kampf um seine Buchhandlung, vom Prozesshergang berichtet, der unter starken Sicherheitsvorkehrungen und mit streng begrenzter Teilnehmerzahl (Corona!) stattgefunden hatte. Tatsächlich war die Gegenseite – ein Frankfurter Anwaltsteam – auf eigenen Wunsch ausschließlich per Video zugeschaltet und man hatte als Besucher entweder die Wahl, diese zu betrachten, oder aber über einen freigelassenen Spalt der Verhandlung zu folgen. Ein zumindest fragliches Konzept.

Von den rund 150 anwesenden Protestteilnehmer*innen, die sich an diesem Morgen am Kriminalgericht versammelt haben, war die Stimmung munter, auch wenn die realistischen Chancen auf einen Prozessgewinn für die Buchhandlung von allen als sehr gering eingeschätzt wurden. Und so stand dann auch bei den Redebeiträgen, u.a. von Daten-Analyst Christoph Trautvetter vom Netzwerk „Steuergerechtigkeit“ und der Grünen-Bundestagsabgeordneten Canan Bayram eher dies im Vordergrund: Durch sichtbaren Protest das Verfahren und die Zustände zu kritisieren, die es ermöglichen, Mietforderungen ins Astronomische zu steigern und Immobilien in einem Kiez wie dem in der Oranienstraße als reine Spekulationsobjekte zu betrachten, aus denen die Mieter nach Belieben herausgedrängt werden können.

Für Kisch & Co. scheint das in der Oranienstraße nun unausweichlich. Willenbrocks Anwalt erklärte noch, über weitere Schritte wie z.B. die Anrufung des Berliner Kammergerichts zu beraten. Für die unabhängigen Gewerbetreibenden in Berlin bleibt es: Ein Schlag ins Kontor.

Update: Wie der RBB und die Berliner Zeitung am 21. August übereinstimmend meldeten, konnte die eigentlich für den kommenden Dienstag, 24. August, angesetzte Zwangsräumung nun verhindert werden. Offenbar konnte ein neuer Mietvertrag zum 1. September in direkter Nachbarschaft, der Oranienstraße 32, geschlossen werden – mit der Deutsche Wohnen.

Die Möglichkeit zu gehen ist immer enthalten

Welchen Preis hat die Freiheit? Lena Müller erzählt in ihrem Debütroman Restlöcher von der Suche nach dem richtigen Platz in der Gesellschaft zwischen Familie und politischem Engagement, Häuslichkeit und alternativen Lebensmodellen.

Auf der einen Seite sind da die Geschwister Sando und Mili: Sando ist im akademischen Mittelbau tätig und in einer unglücklichen Beziehung mit einem jungen Mann, der sich selbst „der Fuchs“ nennt. Dieser Fuchs ist bei jeder Gelegenheit auf politischen Versammlungen und Demonstrationen unterwegs und lässt sich nur wenig auf die harmonische Zweierbeziehung ein, die Sando sich wünscht. Mili hat sich mit mehreren Freunden auf dem Land einen alten Bauernhof gekauft, lebt dort mit ihnen gemeinsam und betreibt eine kleine Backstube.

Parallel dazu erzählt Lena Müller die Geschichte von Sandos und Milis Eltern Dieter und Clara – und hier setzt auch die Handlung ein: Clara ist weg. Als Sando und Mili davon erfahren, machen sie sich auf den Weg zu Dieter, der nicht wirklich besorgt scheint: Denn Clara war schon einmal ohne Ankündigung von der Bildfläche verschwunden, kurz nachdem sie ihr Studium in Berlin beendet hatte.

Claras Zeit in Berlin macht als ausführliche Binnenerzählung den Mittelteil des Romans aus. Es sind die achtziger Jahre, Clara und Dieter sind frisch verheiratet und junge Eltern, aber Clara kann sich mit der Idee vom kleinen Glück nicht anfreunden – sie will studieren. Mit Dieter trifft sie eine Abmachung: Sie geht mit Sando und Mili an die Freie Universität in Berlin, nach dem Ende ihres Studiums wird sie wieder zu ihm zurückkehren.

Wohnhaus im Studentendorf Schlachtensee (Foto: Detlef Bluhm)

Stimmungsvoll porträtiert Lena Müller das Leben Claras in einer Wohngemeinschaft im Studentendorf Schlachtensee, einem modernen Bauensemble, geprägt vom Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit (und heute ein Bau- und Gartendenkmal der Stadt Berlin). Eine besonders enge Freundschaft entsteht zwischen Clara und ihrem Mitbewohner Pablo, den sie schließlich spontan nach Spanien begleitet.

In Dokumenten und Erinnerungen lassen Dieter, Mili und Sando die Geschichte von Claras Selbstfindung Revue passieren. Man erkennt Parallelen zum Verhältnis von Sando und dem Fuchs, der sich auch nicht in die romantische Vorstellung der Paarbeziehung zwängen lässt. Schließlich kommt es zu einem Wiedersehen in Schlachtensee: Einer spontanen Eingebung folgend, fährt Sando nach Berlin und trifft dort tatsächlich seine Mutter wieder, die sich auch auf einer Reise in ihre Vergangenheit begeben hat. Sie erinnert sich:

Die Möglichkeit zu gehen ist immer enthalten.“ Die Mutter denkt nach, dann: „Weil wir nicht nur die sind, die sich die anderen wünschen. Damals, im Studium, hatte ich ein Gefühl von Aufbruch. Ein großer, alle Lebensbereiche umfassender Aufbruch, meine ersten, feministischen Jahre. Damals wusste ich: Bewegung ist dort, wo Frauen sind. Ich war mir sicher, die Veränderung wird von den Frauen kommen, die Männer verharren, stecken tief drin im Sumpf der Vergangenheit, halten sich fest am Alten und haben keine Ideen mehr. Da fand ich, dass die Frauen, aber auch alle, auch die Männer, die ganze Gesellschaft, sehr viel zu gewinnen hatten.“

Auf bemerkenswerte Weise gelingt es Lena Müller in diesem Roman, auf nur wenigen Seiten ein authentisches Porträt von zwei Generationen zu zeichnen. Auch wenn sie viel unterscheidet – die Frage nach dem richtigen Platz in der Gesellschaft muss sich jede aufs Neue stellen.

Lena Müller: Restlöcher. Edition Nautilus, 128 Seiten, 18 €

Marx, aber als Zombie gedacht

In den USA hat die Zeitschrift Jacobin dem guten alten Klassenkampf ein modernes Image verliehen. Jetzt kann man ausgewählte Texte auch auf Deutsch lesen – in einer Anthologie und einem neuen Online-Magazin.

Jacobin war im Gründungsjahr 2010, wie Loren Balhorn, einer der aktuellen Redakteure, es beschreibt, „ein zu jener Zeit bescheidener Versuch, sozialistische politische Vorhaben so darzustellen, dass sie für Millionen Amerikaner, die unter wirtschaftlicher Stagnation, einer erdrückenden Schuldenlast und einem allgemeinen Gefühl des politischen Unbehagens litten, verständlich und relevant sein würden.“ Damit war die Zeitschrift zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Gerade formierte sich die Occupy-Bewegung, eine von Barack Obamas Sozialpolitik enttäuschte Linke spürte neuen Auftrieb.

Eine erste Bilanz von fast zehn Jahren Jacobin zieht die nun erschienene, gleichnamige Anthologie, die als schöner Sonderdruck in der edition suhrkamp vorliegt. Sie lädt zum Vertiefen ein in Themen wie Identitätspolitik, Marx, aber als Zombie gedacht, Donald Trumps Weg zur Macht und Bernie Sanders‘ Sicht auf den demokratischen Sozialismus.

Im selben Atemzug gibt es nun aber auch die Möglichkeit, aktuelle Beiträge aus Jacobin im neu gegründeten, deutschsprachigen Online-Magazin Ada zu verfolgen, das die mitunter sehr auf die USA fokussierten Inhalte wiederum um Originalbeiträge erweitert, die auch für einen deutschsprachigen Leserkreis interessant sind – eine Kooperation, die für spannenden Einblicke sorgen könnte.

Loren Balhorn, Bhaskar Sunkara (Hrsg.): Jacobin. Die Anthologie. Edition Suhrkamp Sonderdruck, 311 Seiten, 18 €

Das Ada Magazin, herausgegeben von Antje Dieterich & Ole Rauch, ist online zu finden unter www.adamag.de

Berlin-Tipp: Die Release-Veranstaltung zur Jacobin-Anthologie findet am Freitag, den 14. September um 20 Uhr im aquarium am Südblock in der Skalitzer Straße 6 statt.