
Am 2. September 2019 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein kleines Porträt über Wolfram Lotz, in dem die Journalistin Theresa Hein den Autoren im Elsass besucht.
Gerade hat Sebastian Hartmanns am Deutschen Theater Lotz‘ neues Stück, das Theatergedicht Die Politiker zur Aufführung gebracht, es geht in dem Porträt aber auch um das Misstrauen gegenüber dem großen Erfolg mit dem Stück Die lächerliche Finsternis und dem Schreiben überhaupt: Ein Zustand, der Wolfram Lotz auf die Idee brachte, ein so genanntes „Totaltagebuch“ zu führen:
Als Lotz im Elsass ankam, 2017, nahm er sich vor, ein Tagebuch zu schreiben, auch
ein bisschen, weil er nicht wusste, was er sonst schreiben sollte. Ein „Totaltagebuch“ wurde es. Lotz stand um acht Uhr morgens auf und schrieb Laternenpfähle, Hühner, Weinberge in das Tagebuch, und alles, was ihm dazu einfiel, mit einer Pause für die Familie am Nachmittag, eine „Wahnsinns-Struktur“, sagt er, „die brauche ich aber einfach. Ich bin jetzt nicht total irre geworden dabei, aber gegen Ende wurde es schwierig“, das gebe er zu. „Irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich schon geschrieben hatte und was nicht, oder wem ich was erzählt hatte. Oder was ich jetzt eigentlich geschrieben und was ich nur gedacht habe.“
Stand 2019 gilt das Totaltagebuch als gelöscht: Lotz gibt an, es selbst vernichtet zu haben. Dass es jetzt nun doch als Buch erscheint, erklärt der Verlag mit der Tatsache, dass zumindest ein Teil des Textes in Form einer E-Mail vorliegt, die Wolfram Lotz an einen Freund geschickt habe.
Und nun ist die Heilige Schrift also da, Band 1 jedenfalls. Schwer wiegen die über 900 Seiten in der Hand, luftig typografisch gestaltet kommt dagegen das Äußere daher. Und wagt man sich hinein in das Riesenwerk, gerät man unversehens ins, ja, Schmökern: Kurze Absätze, wenig Interpunktion, Schlag auf Schlag, Hakenschlag auf Hakenschlag lässt sich die Spur von Wolfram Lotz‘ Gedankengängen verfolgen.
Zu Beginn ist es auch die Form selbst, um diese Gedanken kreisen: Soll das Tagebuch womöglich ins Internet gestellt, ein Blog werden? Die technischen Hürden lassen den Autor davor zurückschrecken. Und so ist die Heilige Schrift jetzt ein Blog in Buchform geworden. Ein Twitterfeed ohne Twitter, kurioses Gegenstück etwa zu Jan Böhmermanns Twitter-Tagebuch der Jahre 2009-2020, das der Verlag Kiepenheuer & Witsch 2021 in einer edlen Hardcover-Ausgabe unter dem Titel Gefolgt von niemandem, dem du folgst herausbrachte, oder zu Stefanie Sargnagels Statusmeldungen, die Wolfram Lotz witzigerweise an einer Stelle in seinem Tagebuch liest („schreibmäßig eine Art Buttermaschine“).
Darüber hinaus wächst sich die Heiligen Schrift mit dem zeitlichen Abstand des Jahres 2022 als ein Zeitdokument aus, in dem etwa Feuilleton-Debatten wie der Streit um das Eugen-Gomringer-Gedicht an der Hauswand der Alice-Salomon-Hochschule, politische Dramen wie der Absturz von Martin Schulz, aber auch Fernsehsendungen und Alltagsklatsch konserviert werden. Hier begibt sich Wolfram Lotz zuweilen auf das Terrain von Walter Kempowski, der in seinem Buch Bloomsday ’97 einen Tag lang durch die 37 Kanäle seines Fernsehers zappte und hemmungslos mitschrieb, was vor ihm flimmerte.
Dass die 912 Seiten der Heiligen Schrift durchweg leicht und entspannt zu lesen sind, wäre aber trotz des beeindruckenden Durchhaltewillens des Autoren übertrieben: Oft gerät Wolfram Lotz ins Schimpfen, wütet gegen unliebsame Kolleginnen und Kollegen oder ärgert sich über seine Umgebung. Dann vertraut er dem Tagebuch aber auch wieder die erhebend schöne, stille Momente an, etwa wenn er seine Kinder beim Spielen beobachtet oder Freunde trifft, die er lange nicht mehr gesehen hat.
Und da stößt dann auch das Tagebuch an seine Grenzen: Einer der berührendsten Momente in der Heiligen Schrift ist ein Treffen von Wolfram Lotz und Dorothee Elmiger in Zürich, bei dem der Autor sofort realisiert: „Ich werde das Gespräch hier mit Dorothee nicht aufschreiben, das ist sofort klar/Das soll zwischen uns bleiben, so interessant und schön wie es ist“.
Wolfram Lotz: Heilige Schrift I. S. Fischer Verlag, 912 Seiten, 34 €
Als nächstes wird sich Wolfram Lotz übrigens wieder einer ganz anderen Form widmen: Für die nächste Ausgabe Lesereihe Meine drei lyrischen Ichs am 5. Mai in München ist er mit neuen Gedichten angekündigt.