Pynchon-Tagebuch (4): Dick Tracy’s wrist radio

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Eine weitere Leiche, noch mehr verbrachte Zeit im Deep Web und ein lehrreicher Vortrag über das Internet – trotzdem geht Bleeding Edge, das helical and slow begann, der real ice cream huldigte und die New Yorker im dritten Viertel scared shitless zeigte, unbefriedigend zuende. Der vierte und letzte Teil des Thomas-Pynchon-Tagebuchs bei The Daily Frown.

Lesefortschritt: 100%

Zunächst einmal fällt der trotz weiterhin verschlungener Handlung chronologisch geordnete Ablauf der Kapitel ab Nummer 34 auf, die Pynchon an die großen Familienfeste Halloween, Thanksgiving und Weihnachten knüpft. Da scheint ihm wohl etwas die Puste ausgegangen zu sein – die große Kostümparty ähnelt Festszenen aus vorangegangenen Kapiteln, das Festtagstreiben in New York ist willkommener Anlass für noch mehr Aufzählungen von Markennamen, Elektronikherstellern und Popkultur-Artefakten. Soll hier nach drei Vierteln des Romans immer noch das Mosaik der Entropie weiterbestückt werden? Oder soll vielleicht fehlende Puste mit gegenwartsgesättigtem Faktenwissen kompensiert werden, das der Autor stolz seinen Lesern vorsetzt? So richtig kommt der Roman nicht mehr in Gang, trotz eines zweiten Mordopfers und der sich langsam enger ziehenden Masche um Software-Guru Gabriel Ice. Auch die DeepArcher-Software, in die sich Maxine zeitweise so sehr vertieft, dass sie nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden kann, fördert keine spektakulären Wendungen mehr zutage. Am stärksten formulieren die letzten Kapitel von Bleeding Edge noch einmal eine grundsätzliche Internet-Kritik, die Pynchon Maxines Vater Ernie – eventuell sogar als einer Art alter-ego-Figur? – in den Mund legt: Der Traum von freier Kommunikation und der Vernetzung mittels des World Wide Web sei schon in seinem Grundgedanken vergiftet, als Erfindung des US-Militärs für einen Ernstfall im Kalten Krieg: „Call it freedom, it’s based on control. Everybody connected together, impossible anybody should get lost, ever again.“ Das ist, im Licht der Whistleblower-Affäre und der gewonnenen Erkenntnisse über die Tätigkeiten der NSA, eine hellsichtige Beobachtung – und eine der stärksten Passagen des gesamten Romans.

Auf eine Detektivgeschichte mit Auflösung und befriedigendem Schluss darf man dagegen bei Bleeding Edge nicht hoffen. Bemerkenswert bleibt die schillernde Hommage an New York kurz vor und nach 9/11 und ein mit 76 Jahren immer noch furioser Erzähler mit einem übergenauen Blick auf die unmittelbare Gegenwart. Etwas kürzer hätte Bleeding Edge allerdings schon sein dürfen – denn mit Ermüdungserscheinungen hatte nicht nur der Leser, sondern offenbar auch der Autor vor allem im letzten Viertel deutlich zu kämpfen.

Markierte Zitate:

„Around them, the City That Doesn’t Sleep is beginning to not sleep even more.“ (Link)

Ernie Tarnows desillusionierter Blick auf das Internet:

„Call it freedom, it’s based on control. Everybody connected together, impossible anybody should get lost, ever again. Take the next step, connect it to these cell phones, you’ve got a total Web of surveillance, inescapable. You remember the comics in the Daily News? Dick Tracy’s wrist radio? it’ll be everywhere, the rubes’ll all be begging to wear one, handcuffs of the future. Terrific. What they dream about at the Pentagon, worldwide martial law.“ (Link)

Ein Kommentar zu „Pynchon-Tagebuch (4): Dick Tracy’s wrist radio

  1. Auf befriedigende, logische Auflösungen darf man bei Pynchon wohl per se nicht hoffen…in bisher keinem der Bücher, die ich von ihm gelesen habe, gab es diesen „logischen Schluß“, der alles erklärt. Es ist sein Stil, der einen wie in einem Erzähl-Sog erfasst und fasziniert, finde ich.

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